Wilhelm Born-Fuchs berichtet von den Erfahrungen der „Tech-Exploration in der Wohlfahrt“, an der er mit dem Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau teilgenommen hat. Er schildert die Erkenntnisse aus sechs Wochen „Tech-Exploration“ im Bereich der Jugendhilfe und gibt ein Update zum aktuellen Status der explorierten KI-Anwendungsidee.

Rund 36.000 Stunden im Jahr – so viel Zeit verbringen die Pädagog:innen in den Wohngruppen der Jugendhilfe des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau mit der Erfassung von Belegen. Denn jedes Mal, wenn Jugendliche der Einrichtung etwas einkaufen, muss der Beleg eingeklebt, gescannt und abgelegt werden. Digitalisiert ist von diesem redundanten Prozess noch kaum etwas. Dieses Vorgehen führt dazu, dass die Betreuer:innen weniger Zeit für ihre eigentliche Arbeit, nämlich die Betreuung der Jugendlichen, haben.

Dieser Schmerzpunkt wurde während der im Sommer 2023 stattfindenden „Tech-Exploration in der Wohlfahrt“ identifiziert. Ziel der „Tech-Exploration“, die in vier Wohlfahrtseinrichtungen durchgeführt wurde, war es, konkrete Anwendungsideen für den gemeinwohlorientierten Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz (KI) zu identifizieren. Externe Tech-Expert:innen – sogenannte Explorierer:innen – haben innerhalb von sechs Wochen gemeinsam mit Mitarbeiter:innen und Klient:innen vor Ort Schmerzpunkte identifiziert und Lösungsansätze für den Algorithmen- und KI-Einsatz erarbeitet.

Die erarbeiteten Vorschläge verdeutlichen das tatsächliche Potenzial von KI in verschiedenen Arbeitsbereichen der Wohlfahrt, einschließlich der Jugendhilfe, die mit EVIM als teilnehmende Organisation an der „Tech-Exploration“ vertreten war. Die dort identifizierte Lösungsidee „Smarti“ wäre ein Ausgaben-Management-System zur digitalen Belegerfassung, das durch Jugendliche selbst genutzt werden kann und bei dem Ausgaben automatisch kategorisiert werden.

Weitere Informationen zu dieser konkreten Idee, wie KI in der Jugendhilfe eingesetzt werden kann, gibt es hier.

Nicht nur würden die Jugendlichen stärker eingebunden werden, sondern die Pädagog:innen müssten auch weniger Daten manuell in das Fachsystem eingeben und hätten daher mehr Zeit für die Jugendlichen. Soweit die Theorie.

Wir haben nun mit Wilhelm Born-Fuchs, Referent für Digitalisierung und Geschäftsprozessmanagement des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau, über die Erkenntnisse aus der sechswöchigen „Tech-Exploration“ gesprochen und nach einem Update zu der explorierten Anwendungsidee gefragt:

1. Was nehmt ihr mit aus sechs Wochen „Tech-Exploration“?

Wilhelm Born-Fuchs: Wir haben eine Fülle an spannenden Ideen und Impulsen erhalten, sowohl aus den Erkenntnissen der teilnehmenden Wohlfahrteinrichtungen als auch aus unseren eigenen Überlegungen.
Der Einsatz von KI war bis dahin für uns eher ein Buch mit sieben Siegeln, mit den Erkenntnissen aus der „Tech-Exploration“ trauen wir uns jetzt zu, konkrete Problemfälle auch mal aus dem Blickwinkel eines Einsatzes von KI zu betrachten.

Sehr geholfen hat uns die strukturierte Vorgehensweise unserer beiden Explorierer:innen Christoph Hassler und Lisa Schmechel, um Problemfälle zu finden und zu analysieren.

Mit der identifizierten Hauptidee „Smarti“, einem Ausgaben-Management-System, wollen wir die administrative Arbeitsbelastung der pädagogischen Betreuer:innen senken und die digitale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen steigern. Aktuell sind wir intensiv damit beschäftigt, diese Idee umzusetzen. Dabei stoßen wir jedoch auf die Herausforderung, dass der Teufel im Detail steckt und es uns bisher noch nicht gelungen ist, die Anwendungsidee in ein Produkt zu überführen. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass wir mit weiterer Anstrengung und eventuell auch externer Unterstützung diesen Hindernissen erfolgreich begegnen können.

Die beiden Explorierer:innen Christoph Hassler und Lisa Schmechel mit Klaus Friedrich, Fachbereichsleiter der EVIM Jugendhilfe (v.l.n.r.) I Foto: Sebastian Pfütze

2. Was war/ist die größte Herausforderung?

Wilhelm Born-Fuchs: Während der „Tech-Exploration“ war es vor allem der Spagat zwischen dem laufenden Tagesgeschäft und dem straffen Projektplan, der alle Beteiligten vor einige Herausforderungen stellte. Es sind zahlreiche gute Ideen entstanden, was uns vor die Aufgabe stellte, zu entscheiden, auf welche Anwendung wir uns fokussieren sollen. Die Vielfalt an Möglichkeiten war beeindruckend, jedoch auch ein wenig überwältigend.

Die tatsächliche Umsetzung der Anwendung „Smarti“ stellt zweifellos unsere größte Herausforderung dar. Obwohl wir über solide Grundlagen verfügen und Künstliche Intelligenz zweifellos eine entscheidende Rolle spielen kann, stehen wir vor der Fragestellung, die richtigen Schnittstellen zu unserer Fachanwendung zu finden und eine individuell angepasste App oder Lösung zu entwickeln. Leider gestaltet sich dies entweder schwierig oder die verfügbaren Optionen sind schlichtweg zu kostspielig. Die Ideen, die wir durch unsere „Tech-Exploration“ gewonnen haben, sind vielversprechend, aber bisher haben sie lediglich die Oberfläche angekratzt. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, bedarf es daher weiterer Feinabstimmung und konkreter Umsetzung.

Lisa Schmechel und Christopher Hassler stellen die explorierte Anwendungsidee „Smarti“ vor I Foto: Sebastian Pfütze

3. Wie geht es weiter?

Wilhelm Born-Fuchs: Wir werden weiterhin die Umsetzung von „Smarti“ im Fokus behalten, da sie als prioritär angesehen wird und das größte Potenzial sowohl für unsere Mitarbeiter:innen als auch für unsere Jugendlichen bietet. Wir machen uns weiter auf die Suche nach einem Umsetzungspartner, mit dem wir die KI-gestützte App entwickeln und mit unserer Fachanwendung verknüpfen können.  Aktuell wissen wir aber noch nicht genau, welche Organisationen solche Lösungen bereits anbieten oder anbieten könnten. Eigentlich müsste sich ein Programm an eine „Tech-Exploration“ anschließen, in dem eine Vernetzung mit potenziellen Anbietern unterstützt wird und mögliche Partnerschaften erkundet werden könnten.
In Bezug auf die weiteren Ideen, die im Rahmen der „Tech-Exploration“ ausgearbeitet wurden, müssen wir bedauerlicherweise feststellen, dass uns momentan die Ressourcen fehlen, um sie weiter voranzutreiben. Wir bleiben dennoch zuversichtlich und hoffen darauf, dass sich in Zukunft weitere Möglichkeiten ergeben, diese Ideen zu realisieren und unser Projekt erfolgreich voranzutreiben.

Publikation „Vom Problem zur Anwendungsidee“ 

Die „Tech-Exploration“ war ein Projekt der Bertelsmann Stiftung und wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert.


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