Im Interview berichtet Johannes Schunter (Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, EWDE) über die konkreten Anwendungsbereiche für Künstliche Intelligenz (KI) im Wissensmanagement großer humanitärer Organisationen. Er sieht vor allem Potenziale für die digitale Bewahrung von kulturellem Erbe und Wissen.

Sprachmodelle und andere (generative) KI-Anwendungen können auch in zivilgesellschaftlichen Organisationen vielfältige Unterstützung bieten, sei es im Wissensmanagement, bei administrativen Aufgaben oder der Arbeit mit Klient:innen. Jedoch wissen wir anhand vieler Beispiele, dass die großen Basismodelle wie die Generative Pre-trained Transformer (GPT), auf dem das Produkt ChatGPT aufbaut, immer wieder Fehler, Verzerrungen und Vorurteile enthalten können. Deswegen ist beim Einsatz von Sprachmodellen wie GPT mit all ihren Möglichkeiten auch Vorsicht geboten, insbesondere im Kontext humanitärer Organisationen. Eine sorgfältige Abwägung darüber, wie und in welchem Zusammenhang sie verantwortungsbewusst eingesetzt werden, ist unerlässlich. Das mitgedacht sollten sich besonders zivilgesellschaftliche Organisation mit KI und den konkreten Anwendungsmöglichkeiten auseinandersetzen, um die Potenziale der Technologie nutzbar und vor allem erlebbar zu machen.

Johannes Schunter ist leitender Experte für Wissensmanagement beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE), zu dem Brot für die Welt, Diakonie Katastrophenhilfe und Diakonie Deutschland gehören. Er treibt die Arbeit der drei Organisationen im Bereich Generative Künstliche Intelligenz und Wissensmanagement voran. Im Gespräch mit Teresa Staiger berichtet er von seiner Arbeit:

KI im Wissensmanagement – wie passt das zusammen?

In unserer vielfältig tätigen Organisation ist effiziente Wissensnutzung entscheidend. KI wird hier zunehmend wichtig, da Menschen die Flut an Wissen allein nicht bewältigen können. KI kann helfen, das Wissen der Organisationen zu durchsuchen, zu organisieren und relevante Informationen für uns aufzubereiten. Sie kann dabei menschliche Fähigkeiten ergänzen, insbesondere bei der Kontextualisierung von Wissen – also der Frage, wie z. B. eine Information aus einem früheren Projekt für eine aktuelle Problemstellung anwendbar gemacht werden kann. Meine Vision dabei ist, dass KI in der Lage sein wird, dokumentiertes Wissen aus all unseren Berichten, Publikationen, Richtlinien und digital festgehaltenen Diskussionen und Protokollen besser für aktuelle Problemstellungen nutzbar zu machen.

Gibt es im Evangelischen Werk Bedenken hinsichtlich der verbesserten Effizienz und Effektivität des Wissensmanagements durch KI?

Die Effizienzgewinne könnten dazu führen, dass man mit weniger Leuten die gleiche Arbeit erledigen kann und das macht verständlicherweise Sorgen. Für Führungskräfte ergeben sich daraus zwei Möglichkeiten: Wir können dasselbe, was wir bisher gemacht haben, mit weniger Menschen tun (was bedeuten würde, dass wir Arbeitsplätze abbauen), oder wir nutzen die Effizienzgewinne, um mit den Menschen, die wir haben und die unserer Arbeit sehr gut kennen, unsere Wirkung zu steigern. Persönlich halte ich die zweite Option für sinnvoller.

Es ist klar, dass KI nicht die menschlichen Fähigkeiten in Bezug auf Motivation, Intention und Zielsetzung ersetzen kann. Aber Menschen, die KI gut für sich nutzen können, werden langfristig einen deutlichen Vorteil gegenüber denjenigen haben, die das nicht tun. In den nächsten Jahren wird die Vertrautheit mit Sprachmodellen etc. wahrscheinlich eine Voraussetzung für viele Berufe sein, ähnlich wie der kompetente Umgang mit dem Internet und Bürosoftware heute.

Was sind konkrete Anwendungsfälle im Wissensmanagement?

Praktische Anwendungsfälle im Wissensmanagement reichen von einfachen Aufgaben wie Protokollführung bis zur digitalen Bearbeitung umfangreicher Formulare in Sekunden. Die Erstellung administrativer Dokumente wie Stellenausschreibungen, Bekanntmachungen und Briefe an Dienstleister können vereinfacht werden. Inhaltliche Arbeiten wie das Formulieren von Pressemitteilungen, Projektanträgen und die Überprüfung von Projektverträgen können ebenfalls von KI profitieren. Die Technologie ermöglicht auch Analysen, wie z. B. die Erkennung von Vorurteilen in Texten, indem wir der KI gezielt die Rolle einer Gleichstellungsbeauftragten übertragen und einen Text auf diskriminierende Formulierungen und Bias überprüfen lassen. Dies sind nur einige Beispiele für die Potenziale, die wir in unseren Workshops entdeckt haben. Es ist spannend zu sehen, wie vielfältig die Anwendungsfälle sein können.

Wie schulen Sie die Mitarbeitenden und wie gehen Sie mit Ängsten um?

Bevor wir die Technologie in der Praxis erleben, sind Ängste oft nur theoretisch. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Technologie ausprobieren, um herauszufinden, wie sie tatsächlich in unserer Arbeit helfen kann.

Bevor wir die Technologie in der Praxis erleben, sind Ängste oft nur theoretisch. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Technologie ausprobieren, um herauszufinden, wie sie tatsächlich in unserer Arbeit helfen kann.

Johannes Schunter, EWDE

Wir briefen deswegen Mitarbeitende, indem wir KI erklären und ihre Funktionsweise aufzeigen, sie es aber auch selbst ausprobieren lassen. Die Reaktionen variieren: Einige sind zurückhaltend, andere erkennen die Vorteile. Der Praxisbezug ist zentral, um zu zeigen, wie KI Arbeitsabläufe verbessern kann. Da kann es schon mal vorkommen, dass man für eine regelmäßig wiederkehrende Aufgabe plötzlich nur noch zehn Minuten braucht anstatt zwei Stunden.

Ein Problem, das wir durch unsere Arbeit feststellen, ist die Voreingenommenheit von KI-Systemen und deren Skalierbarkeit – ein Thema, das insbesondere in Ihrem Arbeitskontext mit vulnerablen Gruppen und im globalen Süden relevant sein dürfte. Wo sehen Sie hier Lösungsansätze?

Marginalisierte Stimmen sind in KI-Systemen stark unterrepräsentiert. Das muss sich definitiv verbessern. In der Umsetzung allerdings stoßen kleine Organisationen an finanzielle Grenzen. „Fine-tuned“ Open-Source-Modelle (die auf Basismodellen aufbauen und für einen spezifischen Kontext weiter angepasst werden, Anmerkung der Redaktion) bieten eine vielversprechende Lösung, da sie spezialisiert und anpassbar sind. Dies fördert Vielfalt und kulturelle Sensibilität. Kleine Länder oder Bevölkerungsgruppen könnten von solchen maßgeschneiderten Modellen profitieren, um ihr kulturelles und historische Wissen zu bewahren. Die Entwicklung solcher Modelle sollte gefördert werden, um kulturelles Erbe und Wissen nicht nur digital zu archivieren, sondern über Sprachmodelle direkt für Nutzer:innen in neuen Situationen anwendbar zu machen.

Die Entwicklung solcher Modelle sollte gefördert werden, um kulturelles Erbe und Wissen nicht nur digital zu archivieren, sondern über Sprachmodelle direkt für Nutzer:innen in neuen Situationen anwendbar zu machen.

Johannes Schunter, EWDE

Was würden Sie sich wünschen, um sicherzustellen, dass alle Organisationen im zivilgesellschaftlichen Kontext gleichermaßen von den Chancen profitieren können, die KI bietet?

Ich wünsche mir eine Debatte, die sich nicht nur in der Theorie um Probleme und Risiken oder um mögliche zukünftige Innovationen dreht, sondern die sich im praktischen Ausprobieren und Experimentieren gründet. Nur indem wir persönlich die Möglichkeiten und Limitierungen von Systemen wie ChatGPT in unseren alltäglichen Aufgabenstellungen ausloten, werden wir sprachfähig, um uns von einer informierten Position aus am politischen Diskurs über die Chancen, Regulierungen und Ethik von KI einzubringen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Wenn Sie mehr über generative KI im Kontext humanitärer Organisationen erfahren möchten, finden Sie hier ein Onlinediskussion, an der unter anderem Johannes Schunter und Teresa Staiger teilgenommen haben. Es wurde erörtert, was derzeit im Bereich der generativen KI geschieht und wie diese Technologien in der praktischen Arbeit humanitärer Organisationen angewendet werden können: Let’s Go Ai? Generative Artificial Intelligence in Developmental&Humanitarian Civil Society Projects – YouTube.


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