Wer seine Steuererklärung einreicht, hat immer weniger mit Finanzbeamten zu tun – stattdessen prüfen Algorithmen routinemäßig die Angaben der Steuerpflichtigen. Wie das jedoch genau funktioniert, ist geheim.

Wer in diesem Jahr seine Einkommensteuererklärung abgibt, wird mitunter eine Überraschung erleben. Der Steuerbescheid kann schon nach wenigen Tagen zurückkommen mit dem positiven Ergebnis, das alle veranlagten Abschreibungen akzeptiert werden. Grund: Dank einer Gesetzesänderung müssen Steuerverwaltungen nicht mehr jede einzelne Erklärung manuell prüfen, sondern können Computer einen Teil der Arbeit erledigen lassen.

Mit der Elektronischen Steuererklärung (ELSTER) hatte der Staat vor zehn Jahren den überfälligen Schritt zur Digitalisierung begonnen und den Steuerpflichtigen die Möglichkeit eröffnet, direkt digital mit dem Finanzamt zu kommunizieren. Nun gehen die Finanzverwaltungen den nächsten Schritt: Mit dem 2016 verabschiedeten “Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens” wurde die automatische Prüfung der Steuererklärung offiziell eingeführt.

Zweiter Anlauf beim Großprojekt Digitalisierung

Die gesetzliche Neuerung ermöglicht es den seit Jahrzehnten permanent überlasteten Finanzbehörden, zumindest einen Teil der Routinearbeiten den Computern zu überlassen. Möglich wurde es durch das Projekt: “Koordinierte neue Software-Entwicklung der Steuerverwaltung – kurz: “KONSENS”.

Es ist bereits der zweite Anlauf der deutschen Finanzbehörden. Das Vorgängerprojekt “FISCUS” (Föderales Integriertes Standardisiertes Computer-Unterstütztes Steuersystem) scheiterte im Jahr 2005 nach 13-jähriger Entwicklungszeit und Ausgaben von 400 Millionen Euro ohne greifbares Ergebnis. Im Anschluss daran machten sich mehrere Bundesländer an das Großvorhaben, die Steuerverwaltung zu digitalisieren. Die Ergebnisse werden nun bundesweit eingesetzt.

Kernkomponente ist das Risikomanagementsystem namens RMS, das mit der Gesetzesnovelle offiziell in allen Bundesländern eingesetzt wird. Die Software prüft jede bei den Finanzbehörden eingereichte Steuererklärung auf Plausibilität. In einfachen Fällen kann sie schon heute ohne Eingriff eines Menschen die Steuerschuld eines Bürgers festlegen. Derzeit sind dies nur wenige Prozent, bis 2022 soll jedoch die Hälfte der Steuererklärungen automatisch bewilligt werden, erklärt Thomas Eigenthaler, Bundesvorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft Im Gespräch mit blogs.bertelsmann-stiftung.de/algorithmenethik.

Mundgerechte Steuererklärung

Der Steuerpflichtige erfährt davon zunächst einmal nichts. „Ob eine Steuererklärung nur von Algorithmen geprüft wurde, kann man in der Praxis nur an der Geschwindigkeit bemerken, in der sie bearbeitet wird“, so Uwe Rauhöft, Geschäftsführer beim Bundesverband Lohnsteuerhilfe gegenüber blogs.bertelsmann-stiftung.de/algorithmenethik.

Die Digitalisierung hat für die Bürger unmittelbare Vorteile: So muss die Einkommensteuererklärung ohne Unterstützung eines Steuerberaters nicht mehr am 31. Mai vorliegen, sondern erst zwei Monate später. Gleichzeitig muss man auch viele Belege nicht mehr zusammen mit der Steuererklärung einreichen. Manche Angaben wie Versicherungsleistungen werden vom Sozialversicherungsträger auch direkt ans Finanzamt übertragen.

Rauhöft konnte noch keine handfesten Nachteile der neuen Praxis erkennen. So ist zunächst nicht zu befürchten, dass ein Computer Fehler zuungunsten der Steuerpflichtigen macht. Im Gegenteil: Wenn die Algorithmen keine unplausiblen Elemente erkennen, werden die Angaben des Steuerpflichtigen so durchgewunken, wie sie eingereicht wurden. „Wenn Änderungen an den abgegebenen Steuererklärungen gemacht werden, muss ein menschlicher Sachbearbeiter tätig werden – zumindest nach unseren Kenntnissen.”, erklärt Rauhöft.

Wenn ein Steuerpflichtiger jedoch einen Fehler zu seinen Ungunsten macht, wird dieser auch nicht unbedingt von den Algorithmen entdeckt. Wer will, kann allerdings auch auf einer manuellen Prüfung seiner Steuererklärung bestehen – beispielsweise, wenn man nicht ganz sicher ist, ob man durch eine falsche Eintragung eines Wertes nicht zu viel Steuer bezahlt. Hierzu gibt es in der Steuererklärung neue Freitextfelder, in denen die Bürger ihre individuellen Erwägungen ans Finanzamt schreiben können. Solche Freitexte müssen dann zwingend von einem Menschen geprüft werden.

Auf der anderen Seite wird von Steuerpflichtigen nun auch erwartet, dass sie ihre Angaben computergerecht einreichen. Wo es früher ausreichte, die Summen der abzusetzenden Ausgaben einzutragen, und die entsprechenden Ausgabenbelege beizulegen, müssen die Steuerpflichtigen nun deutlich detailliertere Angaben machen – etwa bei den steuerlich absetzbaren Haushaltsleistungen. Die Steuerformulare wurden in den vergangenen Jahren aus diesem Grund immer länger. Gewerbetreibende werden dazu verpflichtet, ihre Buchhaltung digital vorzuhalten und den Behörden auf Verlangen Zugang zu geben.

Zu nachsichtige Algorithmen

Die Software RMS zeigte sich in den ersten Einsatzjahren mitunter zu großzügig. So beschwerten sich die Aufsichtsbehörden, dass dem Staat durch die zu lasche Computerprüfung bereits erhebliche Einnahmen entgangen seien.

Der Bundesrechnungshof stellte zum Beispiel 2012 in einem Bericht an den Bundestag fest, dass die Software schlichtweg alle Werbungskosten unter einem gewissen Betrag als “risikoarm” einstufte und damit faktisch durchwinkte. Folge: Viele eingereichten Steuererklärungen ergaben keinerlei Sinn, da auch die Steuerpflichtigen und Steuerberater bemerkt hatten, wenn das Finanzamt bestimmte Angaben gar nicht überprüft.

Um die Steuergerechtigkeit wiederherzustellen mussten die Behörden daher in das Risikomanagementsystem neue Prüfkriterien integrieren. Auch geringere Beträge müssen einer Plausibilitätsprüfung unterworfen werden. Bei einer Stichprobe des Bayerischen Obersten Rechnungshofes im Jahr 2015 zeigte die Software noch deutliche Mängel. So überprüften Fachleute die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung, die von der Software überprüft worden waren. Ergebnis: Bei einem Drittel der Fälle stellten die Prüfer Rechtsfehler fest.

Gegenkontrolle per Zufallsgenerator

Um eine grundsätzliche Fehlprüfung zu vermeiden, haben sich Bund und Länder daher entschlossen, ihrer eigenen Software grundsätzlich zu misstrauen. Per Zufallsgenerator wird eine bestimmte Anzahl der Steuererklärungen nochmals zur manuellen Prüfung ausgewählt. Wenn die Prüfungskriterien des RMS sich als praxisuntauglich erweisen, soll sich dies damit sofort herausstellen. Auch sind sogenannte Turnusprüfungen vorgeschrieben.

Eine öffentliche Überprüfung der Software ist jedoch nicht vorgesehen. “Um die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zu erhalten, können wir leider keine Details zu Parametern der einzelnen Komponenten veröffentlichen”, erklärt zum Beispiel das Finanzministerium Nordrhein-Westfalen auf Anfrage. Geprüft würden die Algorithmen lediglich von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe.

Welche Filterregeln oder auch nur wie viele Filterregeln existieren, wird ebenfalls nicht offengelegt. Die Behörden befürchten, dass sich potenzielle Steuerhinterzieher sonst auf die Prüfsoftware einspielen können. Wenn diese wüssten, welche Angaben den Verdacht der Software erwecken, könnten die dieses Wissen ausnutzen, um eine menschliche Prüfung zu umgehen.

Steuergeheimnis für Algorithmen

Damit setzte sich die Finanzverwaltung über Bedenken von Experten hinweg. So trat der Sprecher des Chaos Computer Clubs Linus Neumann in einer Anhörung des Bundestags dafür auf, die Funktionsweise der Software so weit wie möglich offenzulegen. „Sie können davon ausgehen, dass Daten, die Sie geheim halten wollen, früher oder später an die Öffentlichkeit geraten“, warnte Neumann im Jahr 2016. Der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags entschied sich dennoch für die Geheimhaltung, die nun auch im Gesetz steht.

Immerhin sind einige Grundsätze bekannt. So orientiert sich die Software an den bereits genehmigten Werten des Vorjahres, um auffällige Neuentwicklungen zu identifizieren und zur menschlichen Prüfung vorzusehen. Auch setzt die Software nicht auf intransparente Techniken wie Künstliche Intelligenz oder Maschinenlernen, um Auffälligkeiten zu ermitteln – zumindest bis heute nicht. Somit wäre die Entscheidungsfindung relativ einfach nachträglich überprüfbar.

Kollege Computer

Während die Software im Alltag der meisten Steuerpflichtigen bisher wenig Unterschiede macht, hat sie den Arbeitsalltag in deutschen Finanzämtern bereits umgekrempelt. Denn auch wenn die Algorithmen bisher nur in Ausnahmefällen komplette Steuererklärungen bearbeiten, geben sie den menschlichen Sachbearbeitern präzise Vorgaben, welche Vorgänge sie mit welcher Priorität zu prüfen haben.

„Anfangs war die Arbeit mit dem System insbesondere für erfahrenere Mitarbeiter eine enorme Umstellung – insbesondere wenn die Software gehäuft Prüfungshinweise angezeigt hat, die dann in dokumentierter Weise abgearbeitet werden müssen“, sagt Eigenthaler. Mittlerweile hätten sich aber gerade jüngere Kollegen an die neuen Arbeitsabläufe gewöhnt.

Problematisch wird die Softwarelösung, wenn sie dazu dient, bekannte Mängel zu kaschieren. So beanstandet zum Beispiel der Bundesrechnungshof seit Jahren die Vielzahl komplexer Steuerregeln, die sich von Jahr zu Jahr ändern. Diese trügen nichts zur Steuergerechtigkeit bei, wenn die Umsetzung nicht effektiv zu kontrollieren sei. So hatten Finanzämter sogenannte „Durchwinkwochen“ etabliert, bei denen sie Sachverhalte nicht mehr durch Angestellte überprüfen ließen, sondern schlicht alle verbliebenen Steuererklärungen durchwinkten. Nur so konnten sie der Arbeit Herr werden.

Es bleibt abzuwarten, ob die Automatisierung helfen kann, die chronisch unterbesetzten Finanzämtern zu entlasten. „Je höher die Quote der Fälle ist, die von der Software vollautomatisch abgearbeitet werden, umso mehr muss sich der Mensch nur mit den schwierigen Fällen beschäftigen“, erklärt Eigenthaler. Somit müsste sich der einzelne Sachbearbeiter in der Zukunft wohl weniger Prüfungsfällen widmen – die Bearbeitung wäre aber komplexer und damit auch anspruchsvoller.

Zudem müsse sich die Kommunikation mit den Steuerpflichtigen neu einspielen. Wenn beispielsweise ein Sachbearbeiter künftig Belege anfordere, werde das vom Bürger womöglich als schlechtes Zeichen gewertet und nicht als unkritische Routinemaßnahme.