Dieser Gastbeitrag von Julia Gundlach erscheint im Rahmen unserer Blogparade „Tech for Good? Echt jetzt?! Oder jetzt erst recht?!“.

Seit Beginn der Legislaturperiode hat die Bundesregierung große Ziele im Hinblick auf die Gemeinwohlorientierung ihrer digitalpolitischen Maßnahmen verkündet. Doch ein genauerer Blick zeigt: Gemeinwohl und Teilhabe stehen gut und gerne in den zentralen Überschriften, in den Umsetzungsmaßnahmen werden sie aber entweder bis zur Unkenntnis in andere Themen integriert oder gleich ganz vergessen. Dabei zeigen uns unsere französischen und schwedischen Nachbarn, wie erfolgsversprechend gemeinwohlorientierte Digitalpolitik sein kann.

Seit einigen Jahren verfasst die Bundesregierung mit Vorliebe strategische Eckpunkte für ihre digitalpolitischen Vorhaben und entwickelt daraus – unter Beteiligung mehr oder minder diverser Stakeholdergruppen – Strategiepapiere. Diese zwischen den Ministerien schwerumkämpften Texte geben dann einen guten Einblick in die Umsetzungsprioritäten. Je konkreter Maßnahmen formuliert sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie tatsächlich umgesetzt werden. Auch die Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz (KI) als Beratungsgremium des deutschen Bundestags ist maßgebliche Debattenbegleiterin und beeinflusst so die Maßnahmenausgestaltung. Doch was sagen diese Papiere eigentlich darüber aus, wie stark die Bundesregierung das Gemeinwohl in den Mittelpunkt ihrer digitalpolitischen Überlegungen stellt?

Das aktuell wohl bekannteste digitalpolitische Dokument ist die KI-Strategie, die im November 2018 veröffentlicht wurde. Darin wird ganz zentral „eine verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Entwicklung von KI“ ausgerufen. Das klingt proaktiv und allumfassend, doch werden darunter nur zwei Aspekte aufgelistet: Maßnahmen, die die Arbeitswelt oder die Umwelt betreffen. Auch wenn kaum möglich ist, Gemeinwohl präzise zu definieren, umfasst es doch deutlich mehr als diese beiden Felder. Für den Zweck dieser Analyse ist allerdings hauptsächlich entscheidend, ob eine Gemeinwohlorientierung erkennbar wird, also das Wohl der ganzen Gesellschaft als zentrales Ziel verfolgt wird. Eine der wenigen konkreten Maßnahmen in dieser Hinsicht soll „die Entwicklung von innovativen Anwendungen, die die Selbstbestimmung, die soziale und kulturelle Teilhabe sowie den Schutz der Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger“ unterstützen. Doch darunter fällt hauptsächlich nur, dass im Bereich der Verbraucherpolitik KI-basierte Angebote von allen Bevölkerungsgruppen genutzt werden können, um Teilhabechancen und Beteiligungsmöglichkeiten zu stärken. Angesichts so großer Worte in den Überschriften, findet sich an Umsetzungsideen also erstaunlich wenig. Auf der letzten Seite wird es dann aber doch noch einmal ganz konkret: Die Bundesregierung will eine Kommunikationsstrategie zu KI aufsetzen, die die „Betonung des menschenzentrierten Technikpfades und der Gemeinwohlorientierung“ vermittelt. Mit so wenigen konkret gemeinwohlorientierten Maßnahmen muss dafür eine wirklich einfallsreiche PR-Agentur gefunden werden. Denn was genau soll da strategisch kommuniziert werden, wenn in puncto Gemeinwohl so wenig umgesetzt wird?

Tut man der Strategie Unrecht, da seit der Veröffentlichung viele Monate verstrichen sind, in denen konkretere Maßnahmen hätten umgesetzt werden können? Leider nicht wirklich. Im Gesamtkonzept zur Verstärkung von Maßnahmen zur Förderung Künstlicher Intelligenz vom Mai 2019 lassen sich nur ein paar mehr Hinweise auf das Gemeinwohl finden: So fördert das Bundesumweltministerium sogenannte KI-Leuchttürme – Projekte also, die mit einer speziellen Ausrichtung auf das Gemeinwohl ökologische Herausforderungen bewältigen und dabei nicht in die sonst so rigide und komplexe Förderlogik von Bundesministerien passen müssen. In den anderen Ministerien lässt sich keine so klare Fokussierung auf den Einsatz von digitalen Technologien für das Gemeinwohl finden. Es sind nur indirekte Mitnahmeeffekte für das Gemeinwohl in den Bereichen der Datentreuhandmodelle im Gesundheitswesen, bei energieeffizienten KI-Systemen, der Schaffung eines zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilitätssystems und der Weiterbildungs- und Fachkräftestrategie zu finden. Im Mittelpunkt steht das Gemeinwohl bei der Ausgestaltung dieser Förderprogramme jedoch offensichtlich nicht.

Im Zwischenbericht zu einem Jahr KI-Strategie vom November 2019 verstärkt sich dieser Eindruck weiter. Eine eindeutige Fokussierung auf die Stärkung des Gemeinwohls durch digitale Technologien findet sich nur an einer Stelle: dem Modellprojekt „Civic Technology“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Nach all den Monaten können Informationen dazu jedoch nur in der zugehörigen Stellenausschreibung gefunden werden: So soll die soziale und partizipative Technikgestaltung durch den Aufbau einer Förderplattform gestärkt werden, über die gemeinwohlorientierte Daten- und KI-Projekte unterschiedlicher Förderprogramme administriert, gefördert und kommuniziert werden. Wenn jedoch in einer so langen Zeitspanne so wenig passiert, kommen schnell Zweifel am Impact auf, denn es klingt nach Verzögerungstaktik in unübersichtlichen ministeriellen Gemengelagen.

In Gesamtschau erstaunt es also wenig, dass bereits unmittelbar nach Veröffentlichung der KI-Strategie Stimmen zu hören waren, wonach es „an konkreten Ansätzen für Gemeinwohl und soziale Innovation“ fehle. Unter anderem von den Grünen wurde kritisiert, dass Gemeinwohl und Nachhaltigkeit keine zentrale Rolle spielten. Eine Analyse der KI-Strategie zeigt auf, dass Teilhabe und Gemeinwohl auf der Zielebene noch relativ prominent Platz finden, aber nicht in den Umsetzungsvorschlägen gelandet sind.

Noch schlimmer sieht es bei der Umsetzungsstrategie Digitalisierung und der Blockchain-Strategie aus, bei denen die Gemeinwohlorientierung gänzlich außen vorgelassen wurde. Erst in dem jüngst veröffentlichten Eckpunktepapier zur Datenstrategie kommt Teilhabe wieder direkt im ersten Satz der Strategie vor. Doch nach Erwähnungen in Einführung und Zielformulierung, wird es in den Handlungsfeldern dünn: Es solle geprüft werden, ob Anreizsysteme zur Förderung genossenschaftlicher oder gemeinwohlorientierter Datennutzung geschaffen werden sollten. So werden aus Teilhabe und Gemeinwohl floskelhafte Worte zum Sonntag. Dass es auch anders geht, zeigt die Expertenanhörung zur Datenstrategie: Dort fordert Ingo Dachwitz von Netzpolitik eine deutlich stärkere Ausrichtung auf Innovationen, die dem Gemeinwohl dienen und bringt konkrete Vorschläge ein: das Vergabe- und Beschaffungswesen soll als Steuerungsinstrument für eine offene und gemeinwohlorientierte Datenpolitik etabliert und mehr Startups gefördert werden, die das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen.

Dachwitz ist Vertreter der viel zu selten angehörten digitalen Zivilgesellschaft, aber was sagen die offiziellen Beratungsgremien der Bundesregierung zu dem Thema? In der Enquete-Kommission zu KI gibt es in dem Arbeitsbereich ‚KI und Staat‘ sogar die spezifische Arbeitsgruppe „KI in der öffentlichen Verwaltung, gemeinwohl-orientierte Anwendungen, Teilhabe“. Das klingt vielversprechend! Im Zwischenbericht ‚KI und Staat‘ wird unter anderem die Frage aufgeworfen, welche gemeinwohlorientierten Anwendungen sich auf Grundlage von KI durch den Staat oder mittels staatlicher Förderungen entwickeln lassen. Es wird ein Social Innovation Fonds ins Spiel gebracht, der die Entwicklung gemeinwohlorientierter Lösungen ermöglichen könnte. An keiner anderen Stelle ist so klar formuliert, dass der Staat die Entwicklung gemeinwohlorientierter KI-Systeme innovativ vorantreiben könnte. Ob sich dieser Gedanke durchsetzt, ist jedoch mehr als fraglich, da in den Zwischenberichten der Arbeitsgruppen ‚KI und Wirtschaft‘ und ‚KI und Gesundheit kaum auf die Themen Teilhabe oder Gemeinwohl eingegangen wird.

Zusammenfassend scheint die Orientierung der Bundesregierung an Gemeinwohl und Teilhabe, wenn überhaupt, eine schöne Verpackung von digitalpolitischen Vorhaben. Dabei zeigt uns der Blick über den nationalen Tellerrand, dass es enorm viele spannende Ideen gibt: In Frankreich wurde Ende 2018 ein Innovationsrat mit beträchtlicher Autonomie geschaffen, der jedes Jahr 120 Millionen Euro für die Finanzierung von Lösungsansätzen großer gesellschaftlicher Herausforderungen einsetzen kann. Diese so sogenannten ‚Grands défis verlangen von den Bewerber:innen die Entwicklung von technologisch disruptiven Ansätzen, um gesellschaftliche Probleme in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit, Mobilität oder nachhaltige Entwicklung zu lösen. Gemeinwohlorientierte Innovation durch prestigeträchtige Kniffelaufgaben! Die Franzosen haben sich dabei an der US-amerikanischen Projektförderagentur im Verteidigungssektor namens Darpa orientiert, die vor vielen Jahren auch in Schweden als Inspiration genutzt wurde.

So wurde 2001 die schwedische Innovationsagentur Vinnova gegründet, die als Behörde die staatlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung verwaltet. Anders als in Deutschland sind die Fördergelder zentral verwaltet, was Grabenkämpfe von Ministerien über die jeweils eigenen Fördertöpfe erübrigt. Gleichzeitig sieht es in den Stockholmer Büros weder nach Behörde noch nach Verwalten aus: Das junge, dynamische und etwa 200-Kopf starke Team, das in einem bunt modernen Bürokomplex mitten in Stockholms Innenstadt sitzt, vergibt jedes Jahr ein Fördervolumen von etwa 300 Millionen Euro. Darüber soll Innovationskapazität in ganz Schweden aufgebaut werden, insbesondere in den Bereichen Smart City, Mobilität der Zukunft, Kreislaufwirtschaft, Life Science sowie vernetze Industrie und neue Materialien. Zentrale Fördervoraussetzung bei Vinnova ist dabei, dass alle Projekte dem Leitgedanken vom nachhaltigen Wachstum folgen, im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen stehen und darauf abzielen, gesellschaftliche Herausforderungen kooperativ und oftmals auch digital anzugehen.

So zeigt sich, dass es durchaus möglich ist, digitalpolitische Maßnahmen mehr an Gemeinwohl und Teilhabe zu orientieren: man muss nur einen eindeutigen Förderschwerpunkt darauflegen. Grundvoraussetzung dafür, dass diese Anregungen in Deutschland Relevanz entfalten, ist allerdings ein politischer Durchsetzungswille sowie eine klar zugewiesene Verantwortlichkeit für das Thema. Solange das Thema Gemeinwohlorientierung in jedem einzelnen Ministerium als nette Nebenbeschäftigung mitläuft, wird es keine Durchschlagskraft entfalten können. Daher müssen der fundamental wichtigen Frage nach der gemeinwohlorientierten Ausrichtung digitalpolitischer Bemühungen klare Kompetenzen zugewiesen werden. Gerade weil es Querschnittaufgabe ist, braucht es eine eigene Institutionalisierung. Ideen zu Umsetzungsmöglichkeiten können aus dem Diskurs mit der deutschen digitalpolitischen Zivilgesellschaft gewonnen werden, genauso wie aus dem Vergleich mit internationalen Initiativen. Entscheidend ist, dass die Gemeinwohlorientierung der Digitalisierung nicht weiter Beiwerk bleibt, sondern dass in der nächsten Abstimmung eines Strategiepapiers mit allen Mitteln dafür gesorgt wird, dass aus Überschriften auch konkrete Umsetzungen folgen.


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