Die vierte Ausgabe unserer Dialogreihe „KI-Verordnung – Wege zur Umsetzung“ rückte die wirtschaftlichen Perspektiven der Umsetzung des AI Acts in den Mittelpunkt. Im Fokus standen insbesondere die praktischen Herausforderungen für Unternehmen – vor allem für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Start-ups – die Bedeutung technischer Normen sowie offene Fragen zu Behördenstrukturen, Reallaboren und Leitlinien.
Mit dabei waren Evelyn Grass (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz), Lea Ossmann-Magiera (Weizenbaum-Institut) und Demian Niemeyer (Applied AI Institute for Europe).
In der Diskussion sind drei Punkte besonders hervorgestochen:
- Regulierung wird als notwendiger Ermöglichungsrahmen verstanden. Entscheidend ist nun, durch klare Leitlinien, technische Standards und abgestimmte Zuständigkeiten rechtliche Unsicherheiten abzubauen.
- Die Umsetzung steht unter hohem Zeitdruck. Vor allem der Aufbau der Aufsichts- und Behördenstrukturen muss in kurzer Zeit rechtskonform und praxisnah realisiert werden.
- Unternehmen benötigen Orientierung bei der Auslegung zentraler Begriffe. Insbesondere KMU brauchen konkrete Unterstützung, um ihre regulatorischen Pflichten wirksam umsetzen zu können.
Governance unter Zeitdruck: Aufsicht und Struktur im Aufbau
Evelyn Grass, Leiterin des KI-Referats im BMWK, gab einen umfassenden Einblick in die laufenden Umsetzungsprozesse auf Bundes- und EU-Ebene. Sie betonte, dass die Verordnung als Produktregulierung darauf abzielt, „vertrauenswürdige KI made in Europe“ zu ermöglichen – und zwar ohne Innovationspotenziale auszubremsen. Gerade für Hochrisiko-Systeme seien klare, umsetzbare Regelungen erforderlich, um sowohl Sicherheit als auch Marktzugang zu gewährleisten.
Im Zentrum ihrer Ausführungen stand die enge Frist zur Einrichtung der Aufsichts- und Behördenstrukturen bis August 2025. Auf die Frage, was passiere, wenn diese Frist nicht eingehalten werde, machte sie deutlich: Neben einem möglichen Vertragsverletzungsverfahren auf europäischer Ebene würde ein Verzug die Marktzulassung betroffener KI-Systeme faktisch blockieren. Ohne benannte und arbeitsfähige Behörden könne keine Konformitätsbewertung durchgeführt werden.
Das derzeit in Arbeit befindliche Durchführungsgesetz des Bundes setze auf eine Koordination über die Bundesnetzagentur, ergänzt durch sektorspezifische Behörden. Ziel sei eine schlanke, anschlussfähige Struktur – auch unter den Bedingungen föderaler Zuständigkeiten. Grass betonte zugleich, dass ein solches Modell nur tragfähig sei, wenn es auf klare Leitlinien, präzise Auslegungshilfen und eine strukturierte Zusammenarbeit mit der Wirtschaft gestützt werde.
Was Unternehmen in der Umsetzung konkret brauchen
Lea Ossmann-Magiera beleuchtete die Herausforderungen aus Sicht der Wirtschaft, insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen. Bereits heute stünden viele Unternehmen vor der Frage, ob ihre Systeme als Hochrisiko-KI einzustufen seien und welche Anforderungen sie zu erfüllen hätten. Die Unsicherheit sei hoch, da zentrale Begriffe – etwa „wesentliche Veränderung“, „FeintuningFeinabstimmung (Finetuning): Der Prozess, ein vortrainiertes Modell auf spezifische Aufgaben oder Datensätze anzupassen.“ oder „systemische Risiken“ – bislang nicht ausreichend konkretisiert seien.
Die bislang veröffentlichten Leitlinien der EU-Kommission seien ein erster Schritt, müssten jedoch deutlich konkreter, verständlicher und anwendungsorientierter ausgestaltet werden. Dies gelte insbesondere für Unternehmen, die nicht über spezialisierte Rechtsabteilungen verfügten. Es brauche frühzeitig zugängliche, praxistaugliche Orientierungshilfen, um Unsicherheit zu reduzieren und Umsetzungsschritte planbar zu machen.
Auch auf die Normung ging sie ein: Die fehlenden technischen Standards erschwerten es Unternehmen derzeit erheblich, ihre Pflichten umzusetzen. Da die Normung weit hinter dem gesetzgeberischen Zeitplan zurückliege, sprach sie sich für eine Anpassung der Übergangsfristen sowie eine transparentere Gestaltung des Normungsprozesses aus.
Praktische Umsetzungshürden: Komplexität und regulatorische Mehrdeutigkeit
Demian Niemeyer, Regulatory Expert, ergänzte die Diskussion um eine praxisnahe Perspektive auf die operativen Umsetzungsprobleme in Unternehmen. Besonders betonte er die strukturelle Komplexität der Verordnung, nicht nur in ihrer Länge und Detailtiefe, sondern auch in ihrer Verschränkung mit sektorspezifischen Regelungen. Das Nebeneinander von horizontalem AI Act und vertikalen Fachgesetzen führe zu einer Fragmentierung, die insbesondere Start-ups und kleinere Anbieter vor große Herausforderungen stelle.
Zudem hob er hervor, dass die unklare Risikoeinstufung – etwa im Übergangsbereich zwischen „geringem“ und „hohem“ Risiko – häufig zu vorsichtigen Marktzurückhaltungen führe. Viele Unternehmen gingen regulatorischen Grauzonen bewusst aus dem Weg und konzentrierten sich auf Anwendungen mit möglichst geringer Einstufung. Das sei nicht Ausdruck von Ablehnung gegenüber Regulierung, sondern Folge fehlender Rechtssicherheit und mangelnder Orientierung.
Auch das Fehlen technischer Standards wurde als zentrales Problem benannt. Unternehmen, die heute rechtskonform entwickeln möchten, hätten oftmals keinen Referenzrahmen, an dem sie sich verbindlich orientieren könnten. Niemeyer sprach sich deshalb für stärker priorisierte Leitlinien und eine politisch aktiv moderierte Standardisierung aus, die die Praxisbedarfe systematisch integriert.
Reallabore mit Potenzial unter Vorbehalt
Neben Leitlinien, Normen und Behördenstrukturen wurde auch über die Rolle sogenannter KI-Reallabore diskutiert, die als Testumgebungen für die Erprobung regulatorischer Anforderungen dienen sollen. Diese werden in der KI-Verordnung als zentrale Innovationsräume verstanden, doch in der praktischen Ausgestaltung bestehen erhebliche Unklarheiten.
Besonders für Start-ups sind Reallabore nur dann hilfreich, wenn klar ist, wer sie nutzen darf und welche Mittel dafür bereitstehen. Solange es dazu keine verbindlichen Regeln und ausreichende Unterstützung gibt, bleibt ihr praktischer Nutzen begrenzt.
Fazit: Regulierung als Ermöglichungsrahmen
Die Diskussion der vierten Ausgabe der Dialogreihe hat deutlich gemacht: Die Umsetzung der KI-Verordnung stellt hohe Anforderungen an alle beteiligten Akteur:innen. Sie verlangt nicht nur technisches und juristisches Fachwissen, sondern auch Koordination, Dialogfähigkeit und strukturelle Übersetzungsarbeit. Die Anforderungen müssen klar verständlich, kohärent eingebettet und praktisch handhabbar sein.
Gelingt es, diesen Rahmen mit Augenmaß und Praxistauglichkeit auszugestalten, kann die KI-Verordnung zu einem europäischen Standortvorteil werden: durch Rechtssicherheit, durch Qualitätssicherung – und durch ein gemeinsames Verständnis dafür, dass verantwortungsvolle Technologieentwicklung regulatorische Klarheit voraussetzt.
Fünfte Ausgabe der Dialogreihe „KI-Verordnung: Wege zur Umsetzung“
Wir danken allen Vortragenden und Teilnehmenden für die wertvollen Beiträge und Anregungen in der vierten Ausgabe unserer Dialogreihe. Weiter geht es am 18. Juni 2025, zwischen 14.00 bis 15.30 Uhr mit dem Thema „Generative KI“.
Bertelsmann Stiftung und Weizenbaum-Institut – zur Kooperation
Die europäische KI-Verordnung ist seit dem 1. August 2024 in Kraft getreten. Seitdem liegt der Ball vor allem bei den Mitgliedstaaten: Wie packen wir in Deutschland die Umsetzung an? Für unsere Politiker:innen heißt es: Ärmel hochkrempeln und ran an den Text! Die KI-Verordnung ist nämlich keine leichte Lektüre, sondern ein langes Regelwerk mit komplexen Facetten. Den Überblick bei der nationalen Umsetzung zu behalten, ist dabei essenziell. Um im Verordnungsdschungel einen Beitrag zu leisten und Wege in der Umsetzung aufzuzeigen, starten das Weizenbaum-Institut und wir, das Projekt reframe[Tech] der Bertelsmann Stiftung, eine neue Dialogreihe. In dieser werden Expert:innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft in sieben Terminen zusammenkommen, um sich über die vielschichtigen Inhalte, den Auswirkungen, den Einzelheiten und Hintergründen zu den Umsetzungsanforderungen und -optionen der KI-Verordnung vertraut zu machen und um eine kohärente nationale Umsetzung zu gewährleisten.
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