4,03 Prozent einer Handyladung, 19,3 Minuten Brenndauer einer LED-Glühbirne – so viel Energie kann eine einzelne Chatbot-Anfrage verbrauchen, etwa für die 38-sekündige Formulierung einer E-Mail auf Basis einiger Stichpunkte. In der heutigen Erlesenes-Ausgabe stellen wir ein neues Tool vor, das genau diesen Energieverbrauch von Textanfragen an KI-Modelle in Echtzeit berechnet. Es ermöglicht den Vergleich verschiedener Modelle, Aufgaben und Strategien: z. B. ob ein Modell einfache Antworten liefert oder komplexe Schlussfolgerungen zieht. Um die Zahlen greifbarer zu machen, übersetzt das Tool den Energieeinsatz in alltägliche Vergleichswerte wie Ladevorgänge oder Fahrstrecken. 

Weitere Artikel der heutigen Ausgabe befassen sich mit einem Durchbruch in der Alzheimer-Forschung mithilfe eines KI-Systems, mit einer weltweiten Analyse des Einsatzes von Gesichtserkennung und ihren Auswirkungen auf Protestbewegungen – in Autokratien und Demokratien gleichermaßen. Außerdem: Was wir vom Widerstand der Ludditen im 19. Jahrhundert im Umgang mit Technologie und der sozialen Frage heute lernen können. 

Viel Spaß beim Lesen wünschen
Elena und Teresa

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Die Meinungen in den Beiträgen spiegeln nicht zwangsläufig die Positionen der Bertelsmann Stiftung wider. Wir hoffen jedoch, dass sie zum Nachdenken anregen und zum Diskurs beitragen. Wir freuen uns immer über Feedback – der Newsletter lebt auch von Ihrer Rückmeldung und Ihrem Input. Melden Sie sich per E-Mail an teresa.staiger@bertelsmann-stiftung.de oder bei LinkedIn unter @reframe[Tech] – Algorithmen fürs Gemeinwohl.


Brasiliens digitale Sozialleistungsfalle

Brazil’s AI-powered social security app is wrongly rejecting claims, est of World, 24.4.2025 

Bürokratieabbau liegt vielerorts im Trend. Mit diesem Ziel hat auch die brasilianische Sozialversicherungsanstalt INSS 2018 ihre App „Meu INSS“ mit KI-Funktionen programmiert. Während das System bei einfachen Fällen gut funktioniert, scheitert es oft bei komplexeren Anträgen. So wurde der Rentenantrag von Josélia de Brito, einer ehemaligen Zuckerrohrarbeiterin, sofort abgelehnt, weil das System sie fälschlicherweise als Mann einstufte. Obwohl sie seit Jahren Krankengeld beantragt hatte und an dokumentierten chronischen Krankheiten litt, führten kleinste Fehler zu wiederholten Ablehnungen. Für viele Landarbeiter:innen ist die Nutzung digitaler Plattformen eine große Hürde, nicht nur wegen fehlender digitaler Kenntnisse, sondern auch weil Besonderheiten der Landwirtschaft wie die geteilte Landnutzung nicht berücksichtigt werden. Das INSS plant, bis Ende 2025 55 Prozent aller Anträge über die KI-App abzuwickeln. Obwohl Fortschritte gemacht werden, ist das System für viele noch immer ein unüberwindbares Hindernis. De Britos Fall hatte zwar ein glückliches Ende, aber ihre Erfahrungen haben sie entmutigt: Wenn sie noch einmal einen Antrag auf Leistungen stellen müsste, würde sie das nicht mehr über die App tun, sagt sie. 


Ludditen und die KI-Revolution

How to Survive the A.I. Revolution, The New Yorker, 14.4.2025

Die Geschichte der Ludditen, Textilarbeiter, die vor über 200 Jahren in England Webstühle zerstörten, klingt plötzlich wieder aktuell. Die Ludditen protestierten gegen ein Wirtschaftssystem, das ihre Existenz bedrohte. Die mechanischen Webstühle machten ihre handwerklichen Fähigkeiten überflüssig ähnlich wie heute KI zahlreiche Berufe bedroht. Laut McKinsey könnte KI bis zu 70 Prozent unserer Arbeitszeit automatisieren. In den USA ist bereits ein Viertel aller Programmierungsjobs verschwunden. Expert:innen wie der M.I.T.-Ökonom David Autor warnen vor der „Turing-Falle“: einem Szenario, in dem KI-Systeme menschliche Arbeit vollständig ersetzten, anstatt sie zu ergänzen. Das Ergebnis wäre eine Gesellschaft, in der einige wenige Technologiekonzerne enormen Reichtum anhäufen, während der Rest um immer weniger Arbeitsplätze konkurriert. Gleichzeitig könnten gut gestaltete KI-Systeme im Gesundheits-, Bildungs- und Rechtswesen qualifizierte Arbeit für mehr Menschen zugänglich machen. Dies erfordert jedoch gezielte politische Entscheidungen, strengere Tests und möglicherweise auch eine höhere Besteuerung von KI-Gewinnen. Die Ludditen haben damals in der sozialen Frage verloren. Werden wir klüger sein? 


Mit KI gegen das große Vergessen

AI Helps Unravel a Cause of Alzheimer’s Disease and Identify a Therapeutic Candidate, UC San Diego TODAY, 25.4.2025

Jeder neunte Mensch über 65 Jahre ist von Alzheimer betroffen und bisher gab es nur wenige Behandlungsmöglichkeiten. Nun gibt es einen Hoffnungsschimmer, denn Forscher:innen der University of California in San Diego haben mithilfe von KI entdeckt, dass das Gen PHGDH nicht nur ein Biomarker für Alzheimer ist, sondern tatsächlich eine Ursache der Krankheit. Die Wissenschaftler:innen stellten fest, dass PHGDH-Werte mit dem Fortschreiten von Alzheimer korrelieren. Sie stellten sich die Frage „Wieso?“. Hier kam KI ins Spiel. Mithilfe eines KI-Systems konnten die Forscher:innen die dreidimensionale Struktur des Proteins visualisieren und entdeckten, dass es eine zweite, bisher unbekannte Funktion hat: Es aktiviert Gene, die das empfindliche Gleichgewicht im Gehirn stören. Mit dieser Erkenntnis konnten sie einen therapeutischen Wirkstoffkandidaten identifizieren, der gezielt diese Funktion von PHGDH hemmt. In Versuchen mit Mäusen verlangsamte der Wirkstoff das Fortschreiten der Krankheit deutlich. Auch wenn klinische Tests am Menschen noch ausstehen, ist dies ein gutes Beispiel dafür, wie KI sinnvoll ergänzend eingesetzt werden kann – wie im obigen Artikel angesprochen. 

 


Power Talk: Wenn Fragen Watt kosten

AI for Everyone, A Gift from Hugging Face on Earth Day: ChatUI-Energy Lets You See Your AI Chat’s Energy Impact Live, 23.4.2025

Wie viel Strom verbraucht Ihr ChatGPTGespräch? Hugging Face, eine Plattform für Open-Source-KI, hat „ChatUI-Energy“ vorgestellt, die weltweit erste KI-Chat-SchnittstelleAPI (Application Programming Interface) Eine Schnittstelle, die es verschiedenen Softwareanwendungen ermöglicht, miteinander zu kommunizieren und Daten auszutauschen. APIs definieren, wie Anfragen und Antworten zwischen Programmen strukturiert sein sollten., die den Energieverbrauch Ihrer Konversationen in Echtzeit anzeigt. Das Tool ist für alle zugänglich und funktioniert mit verschiedenen KI-Modellen wie Qwen, Llama, Gemma und Mistral. Es wandelt den Energieverbrauch in verständliche Einheiten um – von Wattstunden bis hin zu alltagsnahen Vergleichen wie „Sekunden Mikrowellenverbrauch“ oder „Prozent der Akkuladung des Mobiltelefons“. Tatsächlich verbraucht eine einzige ChatGPT-Anfrage bis zu 0,3 Wattstunden Strom. Bei Milliarden täglicher Anfragen weltweit eine erhebliche Umweltbelastung. Das Projekt passt perfekt zum Tag der Erde 2025MottoUnsere Kraft, Unser Planet“ („Our Power, Our Planet“) und gibt uns ein Werkzeug an die Hand, um bewusstere Entscheidungen über die Wahl energieeffizienterer KI-Modelle oder den intelligenteren Einsatz von Anfragen zu treffen. Probieren Sie es doch einmal aus: https://huggingface.co/spaces/jdelavande/chat-ui-energy 


Big Brothers Globaler Blick

Hier werden Protestierende mit Gesichtserkennung verfolgt, Netzpolitik.org, 20.4.2025

In mindestens 78 Ländern setzen Behörden heute Gesichtserkennung ein. „Das ist ein massives Problem und es nimmt massiv zu“, warnt Christoffer Horlitz von Amnesty International Deutschland. In Indien etwa werden protestierende Bauern per Drohne identifiziert und ihre Pässe für ungültig erklärt. Im Iran erhalten Frauen, die ohne Kopftuch gefilmt werden, automatisch Straf-SMS. In den USA verfolgt eine private Gruppe propalästinensische Demonstrant:innen, um ihre Ausweisung zu erreichen. In Russland finden kaum noch Demonstrationen statt, weil die Teilnehmer:innen befürchten, später verhaftet zu werden. In Ungarn müssen Pride-Teilnehmer:innen mit Geldstrafen rechnen. In Serbien überwachen 8.000 Kameras die Städte, in China schlagen Millionen von Überwachungskameras Alarm, wenn sich unangemeldete Menschengruppen bilden. Selbst in demokratischen Ländern wie Deutschland wird Gesichtserkennung eingesetzt. Das Bundeskriminalamt gleicht Demonstrationsvideos mit einer Datenbank von 7,6 Millionen Porträtfotos ab. Die künftige Bundesregierung will diese Datenbank um öffentlich zugängliche Bilder aus dem Internet erweitern. Expert:innen und NGOs sehen die Versammlungsfreiheit in Gefahr und fordern sogar die Abschaffung des Vermummungsverbots. Denn ohne die Möglichkeit, anonym an Protesten teilzunehmen, wird ein demokratisches Grundrecht ausgehöhlt. 


Follow-Empfehlung: YOUNA

YOUNA ist ein Chatbot, der als erste Anlaufstelle bei Rassismuserfahrungen dienen soll. 


Verlesenes: Unbemerkt on AIr


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