Die rasante Zunahme des Artensterbens bedroht unsere Biodiversität. Erschwerend hinzu kommt eine Datenkrise, da es viel zu wenige Informationen zum Artenbestand gibt. Die NGO Wild Me hat sich eine bessere Datenverfügbarkeit bedrohter Tierarten zum Ziel gesetzt und trägt damit zu einem effektiveren Artenschutz bei.

Artensterben schreitet in dramatischer Geschwindigkeit voran und bedroht die Biodiversität auf unserem Planeten. Dabei konzentriert sich das Artensterben nicht mehr nur auf einzelne Spezies, sondern breitet sich sukzessive auf eine Vielzahl von Arten aus. So verzeichnet rund die Hälfte aller Vogelarten inzwischen einen Bestandsrückgang. Noch bedrohter sind Waldelefanten, deren Bestände in den letzten 30 Jahren um 86 Prozent eingebrochen sind. Zudem wird ein Drittel aller Hai- und Rochenarten als bedroht eingestuft. Der wichtigste Indikator für das Ausmaß von Artensterben ist die internationale rote Liste bedrohter Tier- und Pflanzenarten. 1964 gegründet, umfasst die internationale rote Liste mit 150.400 Arten zwar erst einen Bruchteil aller Tier- und Pflanzenarten, die auf 8,7 Millionen geschätzt wird, von diesen gelten jedoch inzwischen mehr als 40.000 als vom Aussterben bedroht.

Von den insgesamt über 150.400 erfassten Arten haben über 20.000 jedoch einen sogenannten „Data deficient“-Status. Das bedeutet, dass die Daten zu diesen Arten nicht ausreichen, um eine Einschätzung darüber abgeben zu können, ob diese Arten bedroht sind oder nicht. Zudem ist bei circa 47.000 Arten der Populationsbestand nicht bekannt oder von großer Unsicherheit behaftet. So wird zum Beispiel der Bestand von Eisbären auf 22.000 bis 31.000 geschätzt und ist damit mit einer hohen Fehlerquote behaftet. Das bedeutet, dass es nicht nur eine Biodiversitätskrise, sondern auch eine Datenkrise gibt. Der Mangel an Daten ist besonders problematisch, weil er erschwert, konkrete Maßnahmen zum Schutz bedrohter Tierarten zu verabschieden, wenn der Populationszustand bestimmter Tierarten nicht bekannt ist.

Um diese Datenlücke zu schließen, wurde 2008 die gemeinnützige Organisation Wild Me gegründet, die von dem Programmierer und Umweltschützer Jason Holmberg geleitet wird. Unter der Initiative Wild Me wurden verschiedene Plattformen – sogenannte „Wildbooks“ – gegründet, auf denen ausgewählte Tierarten nachverfolgt werden. Das Entscheidende hierbei ist, dass sowohl Wissenschaftler:innen, Artenschutzorganisationen, aber auch Hobbyfotograf:innen Fotos von Tieren hochladen können. Diese werden auf der Plattform gesammelt und ausgewertet. Das Projekt hat zwei besondere Merkmale: Zum einen ist die Plattform Open Source und stellt ihre Algorithmen bei Github frei zur Verfügung. Dadurch garantiert Wild Me Transparenz und ermöglicht erst, dass die Bilderkennungsalgorithmen im Kollektiv weiterentwickelt werden können. Zum anderen legt die Plattform einen besonderen Fokus auf den Datenschutz und entfernt den Geo-Tag, das heißt die geographische Position von Fotos. Tatsächlich gibt es kaum Vorgaben, wie mit Daten bedrohter Tierarten umgegangen werden sollte. Die Problematik hier ist, dass Wilderer, die illegal Jagd auf Tiere machen, über den Geo-Tag von Fotos mit seltenen Tierarten Informationen über deren Ort erhalten können. Die ohnehin schon bedrohten Tiere sind damit einem weiteren Risiko ausgesetzt. Im Gegensatz zu vielen Social-Media-Plattformen wird das Problem explizit von Wild Me adressiert.

 

Die Identifikation und Dokumentation von bedrohten Tierarten am Beispiel von Walen und Delphinen

Die genaue Funktionsweise von Wild Me lässt sich sehr anschaulich an der Plattform Flukebook erläutern. Auf Flukebook wird der Populationsbestand verschiedener Delphinarten, Buckelwale oder auch Orcas dokumentiert. Technisch erfolgt die Dokumentation der Arten mittels sieben verschiedener Algorithmen, die der Identifikation einzelner Arten dienen. Eine große Rolle spielt hier das maschinelle Sehen. Ein zentrales Anwendungsfeld von maschinellem Sehen ist die Objekterkennung. In einem ersten Schritt werden mittels maschinellen Sehens Wal- und Delphinarten auf Bildern erkannt. Die größere Herausforderung stellt im zweiten Schritt die Identifikation von individuellen Spezies dar. Oftmals existieren nur sehr wenige individuelle Fotos von einzelnen Arten. Um Tiere trotzdem identifizieren zu können, wurden Algorithmen entwickelt, die eine Art digitalen Fingerabdruck für jede dokumentierte Spezies erstellen. So werden die Wal- und Delphinarten etwa an ihrer Körperfärbung oder aber an der individuellen Form ihrer Flossen identifiziert. Abbildung 1 illustriert, wie mittels der Algorithmen eine individuelle Artenerkennung anhand der Flossen erfolgt. Auf dem linken Bild wurden mit einem Algorithmus sogenannte „individuelle Muster“ auf den Flossen sogenannte „hotspots“ ermittelt. Auf dem rechten Bild erfolgte die Artenerkennung wiederum über den Verlauf der hinteren Kante der Flossen. Die große Leistung von Wild Me liegt darin, eine Vielzahl von Algorithmen entwickelt zu haben, die der Individualität der Tiere Rechnung trägt. Während Wale und Delphinarten über die Flossen erkannt werden, erfolgt zum Beispiel die Identifikation von Zebras oder Leoparden über Fellmuster.

 

Abbildung 1: Individuelle Erkennung von Walen und Delphinen anhand der Flossen der Tiere

Quelle: Blount, Drew et al. (2022). „Flukebook: an open-source AI platform for cetacean photo identification“. Mammalian Biology 102. 1005–1023.

 

Gelungene Interaktion von Mensch und Software

Flukebook ist die größte Plattform von Wild Me. Insgesamt sind bereits über zwei Millionen Fotos hochgeladen worden. Zudem sind über 330.000 gemeldete Sichtungen dokumentiert und es konnten bereits fast 70.000 Wale und Delphine identifiziert werden. Flukebook ist jedoch nur eine von 16 verschiedenen Plattformen, die vom Projekt Wild Me betrieben werden und die Dokumentation des Populationsbestands von 53 verschiedenen Spezies ermöglichen. Weitere Tierarten, die im Fokus der Arbeit von Wild Me stehen, sind Giraffen, Haie, Zebras oder Schildkröten. Das Besondere am Wild-Me-Projekt ist der offene kollaborative Charakter. Nicht nur wissenschaftliche Organisationen, sondern auch interessierte Laien können als sogenannte „Citizen Scientist“ zum Projekt beitragen, indem sie Bilder hochladen. Auch bei der Weiterentwicklung des Projekts setzt Wild Me auf Schwarmintelligenz. Dadurch dass der Code open source und frei verfügbar ist, sind die Hürden, ein Wildbook für eine neue Tierart zu erstellen, relativ gering. Das Projekt Wild Me zeigt aus diesem Grund, wie eine wirkungsvolle Mensch-Software-Zusammenarbeit aussehen kann. Zwar garantiert das Projekt keinen besseren Artenschutz, da dafür letztendlich politische Prozesse verantwortlich sind. Aber durch eine genauere Erfassung des Populationsbestands leistet Wild Me einen wichtigen Beitrag dafür, wie evidenzbasierter Artenschutz unterstützt werden kann.


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