Polen hat dem Mehrwertsteuerbetrug den Kampf angesagt. Beim elften Stopp unseres AlgoRail durch Europa berichtet Konrad Szczygieł über den Einsatz eines undurchsichtigen algorithmischen Systems namens STIR, das Firmen identifizieren soll, die ihren fairen Anteil nicht zahlen.

Zu Beginn eine kurze Erklärung: STIR ist eine Abkürzung (System Teleinformatyczny Izby Rozliczeniowej) für ein technisches System, das darauf abzielt, verdächtige Transaktionen und betrügerische Unternehmen automatisch zu identifizieren.

STIR wurde 2017 von der polnischen Regierung eingeführt. Entwickelt wurde es vom National Clearing House (Krajowa Izba Rozliczeniowa, KIR), einem privaten Unternehmen im Besitz privater Banken. Es handelt sich dabei um einen technischen Dienstleister, der den polnischen Banken die Infrastruktur zur Verfügung stellt, die sie für Transaktionen untereinander benötigen.

Vertreter:innen des Finanzministeriums, die mit AlgorithmWatch über STIR sprachen, beschrieben STIR als ein „Datenlager“. „Es ist keine Zauberkiste, die Endergebnisse anzeigt. Es ist immer ein Mensch eingebunden, der analysiert, was das System gefunden hat“, sagte einer von ihnen, der anonym bleiben möchte.

Seit April 2018 ist die Hauptnutzerin von STIR die Nationale Steuerverwaltung (Krajowa Administracja Skarbowa, KAS). Diese neue öffentliche Behörde wurde 2017 geschaffen, nachdem die Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs zu einer Priorität erklärt hatte.

Mehrwertsteuer-Karussell

Wie in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist der Mehrwertsteuerbetrug ein großes und profitables Geschäft. Er wird üblicherweise anhand der Mehrwertsteuer-Lücke gemessen, die die Differenz zwischen den erwarteten und den tatsächlichen Mehrwertsteuer-Einnahmen darstellt (ein Teil der Lücke ist auf andere Ursachen, wie z.B. Konkurse, zurückzuführen).

Laut dem Think-Tank CASE betrug die Mehrwertsteuer-Lücke im Jahr 2018 etwa 140 Milliarden Euro in der Europäischen Union und 5,8 Milliarden Euro in Polen. An dem Betrug, der auch als Mehrwertsteuer-Karussell bezeichnet wird, sind immer mindestens zwei Unternehmen beteiligt. Unternehmen A verkauft ein Produkt mit Mehrwertsteuer an Unternehmen B, überweist die erhaltene Mehrwertsteuer aber nicht an die Staatskasse, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Unternehmen B, das die Mehrwertsteuer an Unternehmen A gezahlt hat, bittet den Fikus – wie gesetzlich vorgeschrieben – um eine Rückerstattung. In der Praxis beinhaltet das System viel mehr zwischengeschaltete Unternehmen und grenzüberschreitende Transaktionen.

Ein Datenlager

Welche Informationen über polnische Unternehmer:innen sammelt STIR? Ziemlich viele. Die Liste umfasst alle Bankkonten, die von einem Unternehmen eröffnet und geführt werden, einschließlich der täglichen Kontoauszüge von Transaktionen, Identifikationsdaten von Absender:innen und Empfänger:innen von Transaktionen und deren Kontonummern; Datum, Betrag, Währung, Titel und Beschreibung der Transaktionen sowie Anfangs- und Endsaldo der Auszüge. Seit Juli 2019 müssen die Banken STIR auch die IP-Adressen mitteilen, von denen sich die Kontoinhaber:innen in ihre Konten einloggen.

Die von der Nationalen Steuerverwaltung veröffentlichten Daten zeigen, dass STIR im Jahr 2019 Daten über 11 Millionen Transaktionen gesammelt hat, die sich auf fast 4 Millionen Entitäten beziehen. STIR ist für Analyst:innen zugänglich, die in einer Sondereinheit der Nationalen Steuerverwaltung arbeiten. Jeden Tag landen Berichte von STIR auf ihren Schreibtischen, die Informationen über Transaktionen enthalten, die automatisch als verdächtig eingestuft wurden, sowie über Entitäten, bei denen ein hohes Risiko besteht, dass sie den Finanzsektor für Steuerhinterziehung nutzen.

Analysen auf Basis von STIR-Daten werden dann dem Leiter der Nationalen Steuerverwaltung zur Genehmigung vorgelegt. Er kann entscheiden, ob als verdächtig eingestufte Bankkonten eingefroren werden. Das Einfrieren eines Kontos kann ohne Benachrichtigung der Bank oder der Kontoinhaber erfolgen und 72 Stunden dauern. Das Einfrieren kann dann auf bis zu drei Monate verlängert werden. Seit März 2019 kann die Entscheidung über das Einfrieren eines Kontos auch von den regionalen Leiter:innen der Finanzämter getroffen werden.

STIR scheint keine Verbindungen zu den Justizbehörden zu haben. Es ist weniger ein Instrument, um frühere Betrügereien aufzudecken und die Übeltäter vor Gericht zu bringen als vielmehr ein vorausschauendes Instrument, um Betrug zu verhindern.

Effektivität von STIR

Im Jahr 2018 wurden wegen des Algorithmus 41 Konten von 23 Entitäten eingefroren, die etwa 10,2 Millionen polnische złoty (2,3 Millionen Euro) umfassen. Die Nationale Steuerverwaltung berichtete, dass durch den Algorithmeneinsatz Diebstähle in Höhe von 132 Millionen złoty (30 Millionen Euro) verhindert wurden, etwas mehr als 0,5% der geschätzten Mehrwertsteuer-Lücke.

Die Zahl hat sich 2019 verfünffacht. 537 Konten, die zu 113 Entitäten gehörten, wurden eingefroren und enthielten über 67 Millionen złoty (15 Millionen Euro) an Vermögenswerten. Die geschätzten Einsparungen für die Staatskassen belaufen sich auf 584 Millionen złoty (133 Millionen Euro).

Nach den neuesten Daten, die wir erhalten haben, führte der Einsatz von STIR 2020 bereits zum Einfrieren von 383 Konten.

Ein STIR-ähnliches System, das Central Electronic System of Payment Information (CESOP), wird voraussichtlich 2024 in der gesamten EU in Kraft treten. Es wird Informationen über die Empfänger:innen und Absender:innen von grenzüberschreitenden Überweisungen sammeln.

Suche nach Rechtsmitteln

Unternehmer:innen, deren Konten aufgrund des Ergebnisses der STIR-Analyse von der Nationalen Steuerverwaltung gesperrt wurden, suchen Hilfe bei den Gerichten.

Bis März 2019, als die regionalen Finanzämter das Recht erhielten, Bankkonten selbst einzufrieren, war das Voivodeship Verwaltungsgericht in Warschau der einzige Ort, an dem Unternehmer:innen Beschwerden gegen die Nationale Steuerverwaltung einreichen konnten. 52 Klagen wurden von Unternehmer:innen eingereicht, deren Bankkonten auf der Grundlage von STIR-Datenanalysen eingefroren worden waren. In 41 Fällen wies das Gericht die Klagen ab und entschied damit gegen die Unternehmer:innen.

In einem Urteil des Warschauer Verwaltungsgerichts vom 20. September 2018 schrieben die Richter:innen, dass das Finanzamt beim Einfrieren eines Kontos kein Beweisverfahren durchführen muss.

Wie erklärt die Nationale Steuerverwaltung ihr Vorgehen? Ihre Philosophie ist einfach: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, sicherzustellen, dass das Geld, das der Staatskasse gehört, beispielsweise nicht von Konten verdächtiger Unternehmen verschwindet.

Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für Unternehmer:innen. Im Juni 2020 vertrat ein Gericht in Poznań eine andere Haltung als das Warschauer Gericht. Die Richter:innen von Poznań urteilten, dass eine Sperr-Verlängerung um drei Monate unrechtmäßig ist, wenn die Sperrung des Kontos für die ersten 72 Stunden nicht ausreichend gerechtfertigt wurde.

Der geheime Algorithmus

Welche Art von Algorithmus verwendet STIR? Es ist ein streng gehütetes Geheimnis. Ein Beamter des Finanzministeriums, mit dem wir sprachen, brach das Gespräch schnell ab, als wir auf die Frage nach den Einzelheiten des Algorithmus fragten und sagte, dass Köche die Geheimnisse ihrer Rezepte auch nicht preisgeben.

Das Gesetz von 2017 sieht vor, dass der Algorithmus von STIR vom National Clearing House entwickelt wird – unter Berücksichtigung der „besten Praktiken des Bankensektors und der genossenschaftlichen Spar- und Kreditgenossenschaften, damit ihre Aktivitäten nicht für Steuerhinterziehung genutzt werden“. Dem Gesetz zufolge verwendet der Algorithmus bei der Auswahl verdächtiger Transaktionen Kriterien wie z.B., ob ein Unternehmen ungewöhnliche, plötzliche Bewegungen auf seinem Bankkonto vorgenommen hat und ob es Geld in „Länder mit hohem Betrugsrisiko“ überweist.

Aufwühlende Unzufriedenheit

Seit Beginn der Arbeiten an STIR ist der Mangel an Transparenz des Algorithmus diskutiert worden. Einwände wurden von NGOs erhoben, darunter Panoptykon, das sich für das Recht der Bürger:innen auf Privatsphäre einsetzt.

Während der Entwicklung des STIR-Gesetzes 2017 missbilligten die Expert:innen von Panoptykon unter anderem die Erfassung der IP-Adressen, von denen sich die Kontoinhaber:innen in ihre Konten einloggen. Auf ihre Fragen wurde nicht eingegangen, die Änderung der Vorschriften wurde trotzdem verabschiedet. Die Sammlung von IP-Adressen ist seit Juli 2019 in Kraft. Eine öffentliche Konsultation fand zu diesem Thema nicht statt.

Das war’s für den elften Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden. Als nächstes fahren wir noch einmal dem Sommer hinterher gen Italien.


Diese Story wurde von  Julia Gundlach  gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch veröffentlicht.

Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer  koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen.


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