Im Bereich der Sicherheitsforschung bekommt kein anderes Land so viel Geld aus dem Horizon 2020-Programm wie Griechenland. Daraus resultierende Anwendungen lassen sich jedoch kaum finden. Beim achten Stopp unseres AlgoRail durch Europa berichtet Nikolas Leontopoulos, wie die europäische Forschungsfinanzierung dazu verwendet wird, Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten. Darunter leiden besonders die Endnutzer:innen, deren Bedürfnisse bei der Forschung nicht genug berücksichtigt werden.

Der 80 Milliarden Euro Fonds Horizon 2020 ist laut der Europäischen Kommission das größte EU-Forschungs- und Innovationsprogramm aller Zeiten.  Fast alle Horizon 2020 Konsortien bestehen aus Forschungszentren, großen und kleinen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, die die Europäische Kommission als Endnutzer:innen bezeichnet.

Griechenland ist nach Bevölkerungszahl das neuntgrößte EU-Land. Doch stehen griechische Forscher:innen an erster Stelle, wenn es darum geht, wer die meisten Horizon 2020 Gelder im Bereich der Sicherheitsforschung erhält, so die Daten aus dem Dashboard von Horizon 2020. So waren griechische Organisationen auch an mehreren Horizon 2020 Projekten beteiligt, bei denen automatisierte Entscheidungsfindungssysteme entwickelt wurden. CERTH in Thessaloniki ist Teil von Anita, einem Programm zur Erkennung von Kriminellen, die auf Online-Marktplätzen aktiv sind. Ebenso ist es Teil vom Projekt Tensor, das darauf abzielt, heterogene Online-Inhalte zur Erkennung terroristischer Aktivitäten abzurufen und zu analysieren. Kemea erhielt eine halbe Million Euro für die Entwicklung von Foldout, einem Projekt, bei dem maschinelles Lernen eingesetzt werden soll, um Asylsuchende zu erkennen, wenn sie auf dem Landweg in die EU einreisen. Und es gibt noch viele weitere Projekte.

Trotz der vielen Forschungsprojekte, bei denen griechische Forschungseinrichtungen oder Endnutzer:innen eine wichtige Rolle spielen, können in Griechenland nur sehr wenige Anwendungsfälle gefunden werden. Wenn Griechenland aber so aktiv in der Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI) ist, wie kann es sein, dass so wenige praktische Automatisierungsanwendungen zu finden sind?

Kaum KI-Anwendungen

Wir haben verschiedene Interessenvertreter:innen des griechischen Forschungsökosystems – von Forschungszentren bis hin zu Endnutzer:innen – nach Beispielen für Horizont 2020 Forschungsprojekte gefragt, die in Produkten resultierten oder in der Praxis angewandt wurden. Fast alle unsere Gesprächspartner:innen hatten wenig bis gar nichts zu erzählen.

Nur eine Beamtin des Ministeriums für maritime Angelegenheiten, einer der wichtigsten Endnutzer von Horizon 2020, wies auf eine „Erfolgsgeschichte“ hin, bei der KI genutzt wurde: Das vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanzierte Optinet.  Optinet sei ein innovatives Instrument zur Optimierung des Netzwerks der Küstennavigation, so Athina Foka, die Leiterin der Abteilung für EU-Strukturfonds im Ministerium. Aber Optinet startete 2018 und soll erst 2021 implementiert werden. Derzeit verfügt es noch nicht einmal über eine Website, und es ist unklar, in welchen Teilen des Projekts automatisierte Entscheidungsfindungen eine Rolle spielen.

Umsetzungsziele unklar

Ein griechischer Forscher, der nur als Artemis identifiziert werden wollte, hat an mehreren Horizon 2020 Projekten mitgearbeitet und hob hervor, dass Projekte finanziert werden, um zu Produkten oder Plattformen zu führen, die realen Bedürfnissen dienen. Das offizielle Motto von Horizon 2020 lautet: Große Ideen vom Labor auf den Markt bringen. Sogar die Europäische Kommission räumte da Versäumnisse ein. In der Zwischenevaluierung des Programms Horizon 2020 wurde unter den Lessons learned die Notwendigkeit von mehr Wirkungsorientierung und bahnbrechenden Innovation genannt.

Was aber ist der Mehrwert von Horizont 2020, wenn das Programm weder zu Wirkung noch zu bahnbrechender Innovation führt?

Herr Vardoulias, ein Forscher am American College von Griechenland, erläutert die implizite Logik: Die direkte Finanzierung von Unternehmen sei in der EU verboten. Eine Alternative bestehe darin, einen indirekten Weg zu finden, um den Unternehmen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit sie auf globaler Ebene wettbewerbsfähig bleiben. Die USA und China unterstützten ihre Unternehmen, also sollte die EU das Gleiche tun. Es sei ein sehr wettbewerbsintensiver Prozess und die Finanzmittel seien sehr begrenzt. Die Mittel könnten aber einen ersten Impuls für Startups oder einen Innovationsanreiz für größere Unternehmen bieten.

Forschungszweck: Selbsterhaltende Maßnahmen

Für ein Land wie Griechenland ist diese Unterstützung besonders entscheidend. Seit 2010 sind Hunderttausende hoch gebildete Hochschulabsolvent:innen ausgewandert. Herr Vardoulias weist darauf hin, dass in den Krisenjahren einer der einzigen Kapitalimporte über die Forschungsprogramme erfolgte. Die Mittel sind nach wie vor existentiell wichtig für Hochschulabsolvent:innen in der KI-Forschung, da es in Griechenland kaum Industrie gibt.

Die Forschungsprogramme sind nicht ohne Mängel, sagt Herr Vardoulias. Das Mantra der Forschungsprojekte sei Innovation. Aber die Forschungsaufrufe seien nicht immer mit der Realität vereinbar, mit dem, was benötigt werde und was machbar sei. In einigen Fällen führe dies zusammen mit dem harten Wettbewerb dazu, dass die Antragsteller:innen überzogene Versprechungen machten. Vorschläge, die sich cool anhörten, werden dann den Projekten vorgezogen, die eine realistischere Budget- und Zeitplanung machten.

Kurze Lebenszyklen

Herr Kyriazanos, ein führender Forscher für Griechenlands Spitzenforschungsorganisation NCSR Demokritos, sagte, dass es am Ende jedes Projekts einige greifbare Ergebnisse gäbe, die auf den Weg zur Kommerzialisierung gebracht werden könnten. Wenn es jedoch keine nationalen Zuschüsse, Unterstützungen oder Förderaufrufe für Forscher:innen gäbe, würden sie sich stattdessen um die Finanzierung für das nächste Projekt bemühen. Wenn es keine günstigen Bedingungen für den „nächsten logischen Schritt“ der Innovation gäbe, würden die Ergebnisse entweder auf einem wenig ausgereiften Prototyp verharren oder schlimmer noch: sie würden auf Eis gelegt werden. So entstünden viele verpasste Chancen.

Raus aus den Elfenbeintürmen

Einer der wichtigsten Endnutzer der Horizon 2020 Projekte ist die griechische Küstenwache. Frau Foka aus dem Ministerium für maritime Angelegenheiten gibt einen Überblick über die europäischen Forschungsprojekte. Sie kritisiert die Arbeit der Forschungszentren, und zwar nicht nur in Griechenland. „Forscher sollten aus ihren Laboren herauskommen und die wirklichen Bedürfnisse kennenlernen. Wenn das Ergebnis nicht auf die Bedürfnisse der Endnutzer zugeschnitten ist, dann wird es niemanden nutzen.“

Herr Artemis sagt: „Die traurige Realität ist, dass hinter einem bedeutenden Anteil der KI-Projekte bei Horizon 2020 nichts als heiße Luft steht. Die Akronyme sind cool, der Wortlaut auch und am coolsten ist der Lebensstil! Europäische Forschungseinrichtungen und Unternehmen sind auf das Geld aus. In Forschungseinrichtungen und bei den Endverbrauchern geht es um einen Lebensstil des freien Reisens, des Essens und der Geselligkeit in Europa. Es ist ein Ökosystem, das von EU-Geldern abhängig ist; ohne diese Gelder würde es sich in Luft auflösen.“

Das war’s für den achten Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden. Als nächstes berichten wir aus Slowenien.


Diese Story wurde von  Julia Gundlach  gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch  veröffentlicht

Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer  koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen. 


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