Ob im Comic-Format, in der Regulierungspolitik oder im Kinderzimmer: Immer wieder wird deutlich, dass technologische Entwicklungen nicht neutral sind, sondern Machtverhältnisse sichtbar machen –und, ja, auch Möglichkeiten eröffnen, sie zu verändern. Etwa durch mehr Teilhabe, gerechtere Technikgestaltung oder neue Formen internationaler Zusammenarbeit.
Deshalb in dieser Ausgabe: Brian Merchant fragt, ob der aktuelle KI-Boom zur größten Technologieblase der Geschichte wird, während Forscherinnen zeigen, wie wichtig Bildung und sicher designte Systeme sind, damit Kinder weltweit KI sicher und gerecht nutzen können. Auch in der globalen Politik verschieben sich die Linien: Während die USA KI längst regulieren, ohne es so zu nennen, suchen neue Allianzen nach Wegen, digitale Infrastruktur öffentlich und fair zu gestalten, wie uns die Koalition zeigt, die das Open-Source-SprachmodellSprachmodell Eine Art von KI-Modell, das darauf spezialisiert ist, menschliche Sprache zu verstehen und zu generieren. Sprachmodelle werden auf großen Textkorpora trainiert und können Aufgaben wie Textgenerierung, Übersetzung und Zusammenfassung bewältigen, indem sie Muster und Strukturen in der Sprache erlernen. „Apertus“ öffentlich zugänglich macht.
Außerdem: Warum ein Comic manchmal mehr über die Auswirkungen technologischer Innovationen auf unser Arbeitsleben erzählt als ein Forschungspapier.
Viel Spaß beim Lesen wünschen
Elena und Teresa
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Who benefits from AI? New comic explores technology’s impact on labor, MIT Sloan School, 28.10.2025
Die MIT-Ökonomen Daron Acemoglu und Simon Johnson haben ihr Buch „Power and Progress“ (Macht und Fortschritt) als Comic neu aufgelegt. Die beiden Wissenschaftler erhielten im Jahr 2024 gemeinsam mit James A. Robinson den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für ihre Forschung zu Institutionen und Wohlstand. Ihre zentrale These widerspricht dem Techno-Optimismus vieler CEOs aus dem Silicon Valley: Technologischer Fortschritt kommt eben nicht automatisch allen Menschen zugute. Der 20-seitige Comic schildert ein Gespräch zwischen einer Historikerin und ihrem KI-Assistenzsystem. Die beiden „diskutieren” historische Beispiele technologischen Wandels und dessen Folgen für Arbeitnehmer:innen, von Benthams Panoptikum über Adam Smith bis John Thelwall. Dabei wird deutlich, dass gemeinsamer Wohlstand nur dann entsteht, wenn Gesellschaften bewusst steuern, wie Technologien entwickelt und eingesetzt werden. Die Produktivitätsgewinne müssten das Wohlergehen der Arbeitnehmer:innen verbessern und nicht nur die Profite weniger Unternehmen steigern. „Die gute Nachricht ist, dass uns heute bemerkenswerte Werkzeuge zur Verfügung stehen”, so die Historikerin. „Arbeitnehmer:innenfreundliche KI-Systeme könnten darauf ausgerichtet werden, neue Aufgaben zu schaffen, bessere Informationen bereitzustellen und Plattformen für die Zusammenarbeit aufzubauen.“ Der Comic bringt die Zusammenhänge zwischen Macht, Technologie und Wohlstand auf verständliche Weise näher und lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wie Fortschritt bewusster gestaltet werden kann.
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Don’t be fooled. The US is regulating AI – just not the way you think, The Guardian, 23.10.2025
Die USA behaupten, KI nicht regulieren zu wollen. Sacha Alanoca von der Stanford University und Maroussia Lévesque von der Harvard Law School widersprechen dieser Behauptung. Zwar wirbt Vizepräsident JD Vance für eine Deregulierung und der Kongress erwägt sogar ein zehnjähriges Verbot staatlicher KI-Gesetze, doch de facto regulieren die USA bereits. Nur eben nicht dort, wo die meisten Menschen hinschauen. Sowohl unter Präsident Joseph Biden als auch unter Donald Trump kontrolliert Washington beispielsweise den Export von KI-Chips nach China und schließt Vereinbarungen mit Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten ab. Diese Eingriffe verstecken sich oft hinter bürokratischer Sprache, zum Beispiel hinter dem Begriff „Implementierung zusätzlicher Exportkontrollen”, und fallen daher kaum auf. Der Artikel unterscheidet zwischen drei Wellen der KI-Regulierung: In einer ersten Welle versucht die EU, gesellschaftliche Schäden zu verhindern, während USA und China hingegen in einer zweiten Welle aus nationalen Sicherheitsinteressen regulieren. Eine dritte Welle könnte beide Ansätze verbinden. Obwohl der Mythos der Deregulierung also politisch opportun ist, ist er eher Fiktion denn Tatsache. Die Öffentlichkeit habe ein Recht auf mehr Transparenz darüber, wie und warum KI reguliert wird, so der Artikel. Diese strategische Ambivalenz verhindere nämlich eine ehrliche globale Debatte darüber, wie wir KI gestalten wollen.
AI literacy in an unequal world: pitfalls and promises, LSE, 27.10.2025
Kinder im Globalen Süden nutzen schon längst generative KI-Systeme. Sie „chatten“ mit ChatGPT, erledigen ihre Hausaufgaben mit Copilot und interagieren mit KI-Systemen auf Snapchat, WhatsApp und Google. Doch während die Begeisterung groß ist, fehlt oft das Verständnis dafür, wie diese Technologien funktionieren und welche Risiken sie bergen. Im Rahmen einer Studie haben Mariya Stoilova und Sonia Livingstone mit Kindern in Brasilien, Indien, Kenia und Thailand gesprochen und drei zentrale Probleme identifiziert. Erstens hat der Einsatz von KI zur Folge, dass bestehende Ungleichheiten vergrößert werden. Kinder aus ländlichen Gebieten oder einkommensschwachen Familien etwa nutzen oft Geräte mit eingeschränkter Funktionalität und erhalten kaum Unterstützung. Zweitens berichteten Kinder von Deepfakes, Fehlinformationen und Vorurteilen in KI-Ergebnissen, die in der Schule verbreitet werden. Drittens sind viele KI-Anwendungen so überzeugend gestaltet, dass Kinder ihnen blind vertrauen und sogar emotionale Bindungen zu ihnen entwickeln können. Die Kinder zeigten teilweise zwar eine Offenheit und Bereitschaft, eigene Strategien zum Umgang mit Risiken zu entwickeln, die Autorin betonte jedoch, dass Bildung und Kompetenzaufbau allein nicht ausreiche: KI-Systeme müssen von vornherein sicherer gestaltet werden.
Public AI Is the New Multilateralism, Project Syndicate, 20.10.2025
Eine internationale Koalition aus KI-Laboren und Cloud-Anbieter hat ihre Rechenressourcen gebündelt, um „Apertus“, ein in der Schweiz entwickeltes Open-Source-Sprachmodell, zugänglich zu machen. Nutzer:innen weltweit können darauf zugreifen, unabhängig davon, von wo aus sie ihre Anfragen stellen. Laut Autor Jacob Taylor könnte das Projekt einen neuen Weg für die internationale Zusammenarbeit aufzeigen. Im 20. Jahrhundert verliefen internationale Kooperationen nämlich meist über multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank. Doch Großmachtrivalitäten und strukturelle Ungleichheiten haben diese Institutionen geschwächt. Gerade im KI-Sektor drohen mittlerweile einige wenige Konzerne, die zukünftige Infrastruktur zu dominieren. Die Apertus-Koalition „Public AI Inference Utility“ zeigt einen alternativen Weg auf: Anstelle langwieriger Verhandlungen und komplizierter Verträge teilen die Beteiligten ihre Infrastruktur, um gemeinsam Probleme zu lösen. Dieser Ansatz würde es nationalen Labs, Universitäten und Unternehmen erlauben, weniger Geld in Basismodelle und mehr in spezialisierte Anwendungen zu investieren. Regierungen und Firmen würden die Kontrolle über ihre KI-Ökosysteme zurückgewinnen und wären nicht mehr von geopolitischen Unsicherheiten und Unternehmensentscheidungen abhängig.
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AI Is the Bubble to Burst Them All, WIRED, 27.10.2025
Seit dem Markteintritt von ChatGPT Ende 2022 wird immer deutlicher: KI ist mehr als nur eine vorübergehende Technologieblase. Sie könnte die größte Blase der Geschichte sein. Doch was heißt das genau? Die Ökonomen Brent Goldfarb und David Kirsch haben in ihrem Buch „Bubbles and Crashes” („Technologieblasen und Crashs”) vier Merkmale identifiziert, die eine derartige Blase ausmachen. KI erfüllt sie alle. Erstens gibt es große Unsicherheit: Während Technologien wie das elektrische Licht schnell nutzbar waren, ist bei KI unklar, wie nützlich sie tatsächlich ist und ob sich damit wirklich Geld verdienen lässt. Zweitens gibt es Unternehmen, die alles auf eine Karte setzen, sogenannte „Pure Plays“. Diese Unternehmen sind so eng miteinander verflochten, dass das Scheitern eines von ihnen den gesamten Sektor erschüttern könnte. Drittens drängen unerfahrene Investor:innen auf den Markt, von denen viele nicht verstehen, was sie kaufen. Viertens gibt es starke Geschichten, die den Markt antreiben. Die Erzählung von der „Superintelligenz“, die alles verändern wird, ist so mächtig wie die vom Radio in den 1920er Jahren. Damals platzte die Blase, als die Realität die Versprechen einholte. Goldfarb und Kirsch sind sich einig: Die Frage ist nicht, ob die Blase platzt, sondern wann. Und wer dann die Folgen trägt.
Follow-Empfehlung: Isabel Lerch
Isabel Lerch ist Datenjournalistin bei NDR Data und KI-Expertin.
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Verlesenes: Ghostwriter-Moment
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