Mit dem Vorschlag zur Digital-Omnibus-Verordnung eröffnet die Europäische Kommission nun eine neue Phase europäischer Digitalpolitik. Ziel ist es, zentrale Gesetze kohärenter, verständlicher und praxistauglicher zu gestalten. Wie Vereinfachung des AI Act gelingen kann, ohne Schutz und Vertrauen aufs Spiel zu setzen, zeigt unsere neue Studie.
Im August 2024 trat der AI Act als eines der jüngsten digitalen Regulierungswerke der Europäischen Union in Kraft und befindet sich seither schrittweise in der Umsetzungsphase. Doch noch bevor die ersten Bestimmungen vollständig greifen, zeigt sich, dass die Umsetzung in der Praxis mit erheblichen Hürden verbunden ist. Die Entwicklung zentraler Standards, technischer Leitlinien und sektorübergreifender Auslegungshilfen, die für eine einheitliche Anwendung erforderlich sind, schreitet nur langsam voran. In vielen Mitgliedstaaten verzögert sich zudem der Aufbau nationaler Durchsetzungsbehörden, und auch die Koordination zwischen nationaler und europäischer Ebene bleibt in zahlreichen Punkten unklar. Diese praktischen Herausforderungen gefährden nicht nur eine reibungslose Umsetzung, sondern bergen auch das Risiko einer Fragmentierung und Uneinheitlichkeit innerhalb des europäischen Rechtsraums.
Implementierung trifft auf Wettbewerbsdruck
Gleichzeitig hat die Diskussion über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und Regulierung mit der Veröffentlichung des Draghi-Berichts im September 2024 eine neue politische Dimension erhalten. Mario Draghi betont darin, dass Europas wirtschaftliche Stärke entscheidend davon abhängt, wie gut Innovation und Regulierung miteinander in Einklang gebracht werden. Sein zentrales Anliegen ist es, bestehende Rechtsrahmen zu verschlanken, zu harmonisieren und so die Grundlage für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen. Ein Jahr später hob Draghi in seinen Reflexionen über den Bericht die wachsende strategische Bedeutung digitaler Regulierung und künstlicher Intelligenz hervor. Zugleich wies er auf anhaltende Hürden in der Umsetzung und Durchsetzung hin und betonte die Notwendigkeit praktischerer und wirksamerer Ansätze. Diese Debatte hat zudem mit dem Blick über den Atlantik und darüber hinaus an Dringlichkeit gewonnen, angesichts des wachsenden geopolitischen Drucks auf Europa, seine digitale und wirtschaftliche Souveränität zu sichern. Damit ist die Diskussion um den AI Act und andere digitale Gesetze erneut nicht nur eine technische oder juristische, sondern eine hochpolitische Debatte über die wirtschaftliche, technologische und demokratische Zukunft Europas.
Vereinfachung als politische Priorität
Mit der Omnibus Agenda versucht die Europäische Kommission, auf diese Herausforderungen zu reagieren. Die Initiative umfasst sechs thematische Pakete von Nachhaltigkeit und Investitionen bis hin zu Landwirtschaft, Sicherheit und Industrie. Sie soll bis 2030 den europäischen Rechtsrahmen modernisieren, Bürokratie abbauen und Widersprüche zwischen bestehenden Regelungen auflösen.
Das Digital Package, Teil von Omnibus IV innerhalb dieser Agenda, konzentriert sich insbesondere auf die Vereinfachung bestehender digitaler Rechtsakte. Ziel ist es, Überschneidungen und Doppelstrukturen zu vermeiden, Meldepflichten zu harmonisieren und die praktische Anwendbarkeit des Regulierungsrahmens zu verbessern. Erstmals werden zentrale digitale Gesetze gemeinsam auf Kohärenz, Verständlichkeit und Umsetzbarkeit geprüft.
Wie der AI Act vereinfacht werden kann
Unsere Studie „Simplifying European AI Regulation – An Evidence-based Study“, geschrieben von Prof. Dr. Philipp Hacker, Dr. Robert Kilian und Prof. Dr. Jana Costas und unterstützt durch den KI Bundesverband, zeigt, welche Möglichkeiten der AI Act selbst für Vereinfachungen bietet und wie diese konkret umgesetzt werden könnten. Auf der Grundlage von 15 halbstrukturierten Interviews und einem Stakeholder-Workshop mit Unternehmen, Start-ups, Verbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus ganz Europa analysiert die Studie, wo die größten praktischen und strukturellen Hürden in der Umsetzung liegen, und formuliert Vorschläge, wie Vereinfachung, Kohärenz und Rechtssicherheit erreicht werden können, ohne die Schutzwirkung des Gesetzes zu schwächen.
Die Autor:innen empfehlen beispielsweise:
- Risiko-Klassifikation und Governance schärfen: Stärker sektorale Ansätze für High-Risk-Systeme nutzen, Doppelprüfungen vermeiden sowie klare Regeln für General Purpose AI (GPAI) und Fine-Tuning etablieren.
- Technische und prozedurale Anforderungen entlasten: Überlappende Pflichten straffen, Dokumentation stärker risikobasiert ausrichten, technische Standards vereinheitlichen und den Zugang dazu verbessern.
- Verantwortung, Aufsicht und Unterstützung stärken: Haftung entlang der Wertschöpfungskette klären, Aufsichtsstrukturen bündeln und gezielte Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie zivilgesellschaftliche Akteure aufbauen.
Vereinfachung bedeutet dabei nicht Deregulierung, sondern präzisere Regulierung mit klaren Zuständigkeiten, verständlichen Anforderungen und konsistenten Verfahren, die Vertrauen, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit gleichermaßen stärken.
Neujustierung der europäischen Digitalregulierung
Unsere Studie kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt. Am 19. November 2025 veröffentlichte die Europäische Kommission im Rahmen des Digital Package ihren Vorschlag für eine Digital-Omnibus-Verordnung, die den AI Act, den Data Act, die Datenschutz-GrundverordnungDSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) Ein EU-Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre von EU-Bürgern. (DSGVODSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) Ein EU-Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre von EU-Bürgern.) sowie Cybersicherheitsrichtlinien wie NIS2 umfasst, und legte damit die Grundlage für die nun laufenden Verhandlungen. Die Europäische Union befindet sich in einer Phase, in der die Leitplanken der Digitalpolitik neu gezogen werden und entschieden wird, ob Regulierung vereinfacht werden kann, ohne an Klarheit, Schutz und Werteorientierung zu verlieren.
Was und wie in den kommenden Verhandlungen über die Digital-Omnibus-Verordnung entschieden wird, verdient besondere Aufmerksamkeit. Vereinfachung sollte dabei nicht zu einer politischen Maßnahme werden, die unbeabsichtigte Schlupflöcher oder neue Unsicherheiten schafft. Sie darf nicht Vertrauen und Strukturen schwächen, sondern muss dazu beitragen, sie zu stärken. Gleichzeitig bietet der Prozess die Chance, die europäische Digitalpolitik moderner und wirksamer zu gestalten.
Richtig umgesetzt kann Vereinfachung Innovation begünstigen, den Marktzugang für kleine und mittlere Unternehmen erleichtern und die Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsbehörden und Wirtschaft effizienter gestalten. Sie bietet die Möglichkeit, den europäischen Rechtsrahmen klarer, nachvollziehbarer und anwendungsfreundlicher zu machen – und damit die Verbindung von Schutz, Vertrauen und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. So kann Europa seine Werte von Transparenz, Fairness und demokratischer Teilhabe auch in der nächsten Phase digitaler Regulierung verlässlich sichern.
Es braucht dafür klare, faire und handhabbare Regeln, die europäischen Start-ups und KMU Orientierung geben und zugleich unsere Grund- und digitalen Freiheitsrechte, also den Kern des bisherigen europäischen Ordnungsrahmens, schützen. Diese Grundlagen dürfen im Zuge des Digital-Omnibus-Prozesses nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Dieser Text ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Kommentar schreiben